Kummerkasten – Antwort 37

Hallo, ich (geb. Weiblich) habe irgendwie das Gefühl, mich zwar mit meinem zugewiesenen Geschlecht zu identifizieren, weibl. Pronomen und so sind in Ordnung und auch mit meinem Körper selbst gehts mir in Ordnung, aber ich fühle seit nem halben Jahr bewusst, dass da noch mehr ist. Es gibt Tage, da kotzt es mich an, so offensichtlich weiblich zu sein und ich verstecke mich unter nem weiten Pulli (bin auch ganz froh, kleine Brüste zu haben) und würde am liebsten gar nicht als Frau wahrgenommen werden. Aber auch nicht als Mann oder so, es ist eher so, dass ich Tage habe, da brezel ich mich ganz weiblich auf und fühle mich wohl und dann gibts Momente, in denen das nicht so ist, oder Momente, in denen ich mich nicht als Frau bezeichnen kann, echt nicht kann, sondern nur als Mensch. Hatte im Herbst eine lange phase, in der ich nichts anderes als weite Pullis trug und beim Klamotten kaufen Unterwäsche gesehen habe (in der „frauen“-abteilung), die aussah wie Jungenboxer. habe erstmal einen Packen geholt und war damit und mit dem Gefühl sie zu tragen so krass glücklich, dass ich ne woche später direkt noch zwei packen dazu geholt habe. ich war nie so froh, Klamotten gekauft zu haben, die nicht offensichtlich weiblich sind. ich frage mich ob ich vielleicht manchmal zwischen meinem weiblichen und einem eher neutralen/ nicht gegenderten geschlecht wechsle, aber weil ich mich die meiste Zeit über schon relativ weiblich fühle, weiss ich nicht, ob das einbildung ist, oder ob andere Frauen auch so fühlen. es hilft mir auch nicht, dass ich mich jahrelang in weibliche stereotype gestürzt habe und mich bewegt und verhalten habe, „wie sich das für Frauen gehört“, weil ich dachte, dass das so sein muss, denn wie gesagt, es gibt irgendwie Tage, an denen fühle ich mich echt nicht weiblich, aber auch nicht männlich oder sonst irgendwie einem spezifischen geschlecht zugehörig. an solchen tagen gehts mir auch meistens nicht gut, da wiegt dann immer etwas ganz ungreifbares auf mir und wenn ich versuche, das zu beschreiben, ist die beste Beschreibung, die ich finden kann nur, dass ich neben mir stehe oder mich nicht fühle. an solchen tagen empfinde ich meine brüste auch als störend, aber eher in bezug auf bewegung und sichtbarkeit und nicht als falsch per se, nur, als zu deutliches Merkmal für andere wie sie mich ansprechen sollen, weil ich das gefühl habe, andere sehen vor lauter Frau den Menschen, der ich bin, nicht. stelle ich mich an oder ist es möglich, dass ich irgendwie ein fließendes Geschlecht habe zwischen Frau und….nicht Frau (aber auch nicht Mann)? könnt ihr mir vielleicht literatur oder links nennen, die da helfen könnten? ich kann mich darüber auch nicht wirklich mit jemand anderem unterhalten weil ich mir dabei so dumm vorkomme oder angst habe, dass ich mir das alles wirklich nur einbilde und da viel zu viel hineinlese…. sorry für die lange Nachricht, bin wirklich fast am verzweifeln, ich hatte solche phasen schon in jüngeren Jahren, aber hab das immer abgetan und in den hinterkopf verbannt, weil ich nebenbei schon genug mit meiner Sexualität zu tun hatte und jetzt weiss ich nicht, was los ist mit mir.
danke für eure Hilfe und die Möglichkeit, sich hier auch auf deutsch über all das zu informieren und fragen zu können, danke.
Sam

Hallo Sam,

danke für deine Nachricht. Was du beschreibst, klingt, als könntest du genderfluid sein. Genderfluid bedeutet, dass eine Person nicht ein festes Geschlecht hat, sondern zwischen verschiedenen Geschlechtsidentitäten wechselt. Dieser Wechsel kann jeden Tag passieren, oder alle paar Wochen, oder jedes Jahr, das kann von bestimmten Umständen abhängen, von den Leuten, mit denen sich eine Person umgibt, oder auch gar keinen bestimmten Grund oder Auslöser haben. Genderfluide Menschen können zwischen allen möglichen Geschlechtern wechseln – in deinem Fall klingt es so, als würdest du vielleicht wechseln zwischen weiblich und agender. Agender sein bedeutet, keine Geschlechtsidentität zu haben oder mit dem Konzept von Geschlecht nichts anfangen zu können. Dass du dich an den Tagen, an denen du dich nicht weiblich fühlst, in deinem Körper und mit deinen Brüsten unwohl fühlst und lieber weite Klamotten trägst, und dass du an diesen Tagen nicht gerne als Frau oder weiblich wahrgenommen wirst, kann mit Dysphorie zusammenhängen. Dysphorie ist etwas, das u.a. trans und nichtbinäre Menschen empfinden, wenn sie von sich selbst oder von anderen nicht so wahrgenommen werden, wie sie sich geschlechtlich fühlen.

Wir verstehen, dass du unsicher bist, ob deine Gefühle zu deinem Geschlecht echt sind – Geschlecht ist sehr verwirrend, vor allem, wenn es nicht den üblichen Normen von ‘männlich’ und ‘weiblich’ entspricht, die unsere Gesellschaft uns vorschreibt. Unserer Erfahrung nach gibt es aber so was wie “sich nur anstellen” oder “es sich nur einbilden” im Bezug auf Geschlecht nicht. Leute, die sich so intensiv Gedanken über ihr Geschlecht machen, tun das meistens, weil sie sich eben nicht einfach nur mit dem Geschlecht identifizieren, dem sie bei der Geburt zugewiesen worden sind.

Es gibt auf deutsch leider nicht viel Literatur oder Links zum Thema Genderfluid, aber wir können dir trotzdem unser Glossar empfehlen, wo du auch nochmal Definitionen zu Begriffen wie agender, trans, nichtbinär und mehr findest. Außerdem kennst du vielleicht Ruby Rose. Ruby Rose ist Model und spielt z.B. auch in der Serie “Orange is the New Black” mit, und identifiziert sich auch als genderfluid.

Hoffentlich hilft dir das weiter. Wir wünschen dir alles Gute bei der Suche nach Antworten, und wenn du noch mehr Fragen hast, steht unser Kummerkasten jederzeit für dich offen!

Liebe Grüße,

Balthazar

Entdecke mehr von Queer Lexikon

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen