Kummerkastenantwort 238: Label, soziale Konstruktion und ob wir uns sicher sein können, tatsächlich queer zu sein.

Hallo,
Ich bin noch ganz am Anfang und fange gerade erst an mich mit den Dingen mit denen ihr euch beschäftigt selbst auseinanderzusetzen. Es ist wirklich sehr spannend und ich habe schon eine Menge gelernt, denke ich, allerdings sind bei mir noch einige Fragen offen.
Oft schreibt ihr zum Beispiel, dass es letztlich nur darauf ankommt wie sich jemand fühlt und das dann das entsprechende Label von dieser Person ausgesucht werden kann. Ich frage mich dann allerdings immer wie man da selber ganz sicher sein kann? Wann also kann sich eine Person wirklich selbst entschieden haben was er oder sie oder x (ich bin mir den Begriffen noch sehr unsicher, sorry) selbst ist, wenn er usw. ständig von der Gesellschaft beeinflusst wird? Wo ist sozusagen die Trennung zwischen dem was sozial konstruiert ist, und dem was wirklich echt ist? Macht das Sinn?
Ich hab irgendwie so ein bisschen Angst, dass etwas verloren geht, so die letzte Sicherheit quasi, wenn wir nicht mehr genau sagen können, was echt und was unecht ist. Was ist denn richtig und falsch? Und wenn jeder das für sich selbst entscheiden kann und es nur von seinen Gefühlen abhängig macht, wie können wir denn dann noch zusammen leben? Als Menschen insgesamt mein ich. Oder verstehe ich da etwas ganz falsch?
Ich hoffe meine Fragen machen irgendwie Sinn. Vielen Dank schon mal!

Hallo lieb* Unbekannte*r,

Vielen Dank für deine Fragen, die ich alle sehr spanennd finde. Ich glaube, wir könnten darüber mehrere Podcast-Folgen und Blogbeiträge machen und nicht alles abdecken – und vielleicht werden wir das auch noch tun. Jetzt bekommst du also erstmal eine kurzgefasste Antwort.

Wir schreiben oft, dass es darauf ankommt, wie sich eine Person selbst definiert und fühlt und nicht wie andere Menschen diese Person einkategorisieren, das stimmt. Das tun wir vor allem, weil wir (uns auch sonst niemand) nicht in andere Menschen reinschauen können – Begriffe wie “schwul”, “aromantisch” oder “nicht-binär” sind letztendlich nur Begriffe, mit denen bestimmte Gefühle und Eigenschaften ausgedrückt werden sollen. Ich gehe nicht davon aus, dass alle aromantischen Menschen das Gleiche fühlen oder die selben Eigenschaften haben, sondern nur ähnlich oder vergleichbar fühlen und sind. Sicher sein, ob ich auf die selbe Weise meine sexuelle Orientierung, mein Geschlecht etc. erlebe, wie andere Menschen, die die selben labels benutzen wie ich, kann ich sowie so nie. Dafür reicht unsere Sprache glaube ich an vielen Stellen nicht aus.

Du nimmst in deiner Frage an, dass es auf der einen Seite eine natürliche, ursprüngliche sexuelle Orientierung / ein Geschlecht etc. gibt, dass eventuell von gesellschaftlichen Einflüssen oder sozialen Konstruktionen überschattet werden kann. Dieser Annahme würde ich gerne widersprechen. Ich glaube nicht, dass es überhaupt eine geschlechtliche Identität oder sexuelle Orientierung gibt, die außerhalb von gesellschaftlichen Einflüssen oder sozialen Konstruktionen liegt. Das heißt: Es gibt keine Trennung zwischen dem, was echt ist und dem, was sozial konstruiert ist – weil wir das überhaupt nicht auseinanderdividieren können. Das sozial konstruierte ist echt in dem Sinn, dass es für uns alle Realität ist und es aus dieser Realität kein Entkommen gibt.

Ich kann deine Angst, dass etwas verloren geht, wenn wir zwischen “echt” und “unecht” (ich glaube, damit meinst du sozial konstruiertes) nicht unterscheiden können, nicht ganz nachvollziehen. Wie bereits erwähnt, glaube ich nicht, dass wir diese Unterscheidung überhaupt nicht machen können – und ich wüsste auch nicht, wieso wir sie machen sollten. Richtig und falsch sind erstmal überhaupt gar keine Identitäten – und ich glaube, moralische Kategorien sind hier auch überhaupt insgesamt fehl am Platz.

Ich weiß auch nicht, wieso es uns daran hindern sollte, als Gesellschaft zusammenzuleben, wenn wir alle unsere Identitäten selbst bestimmen können. Was sind denn die Konsequenzen, die du fürchtest?

Schreib uns gerne nochmal, wenn du magst!

Liebe Grüße,

Annika