Enby Q&A: 1
Ab heute gibt es auf diesem Blog ein Special zu nicht-binären Geschlechtern. Jeden Mittwoch werden wir eine Frage und Antwort (“Q&A”) zu Nicht-Binären (“Enby”) Geschlechtern hier veröffentlichen. Unser_e Gastautor_in ist Sasha. Es ist nichtbinär, das bedeutet, dass es weder männlich noch weiblich ist. Zu diesem Thema erreichen es auch immer wieder Fragen, die wir hier mitsamt den Antworten veröffentlichen dürfen. Sasha betreibt außerdem die Webseite https://geschlechtsneutral.wordpress.com
“Frage: Wie viele Geschlechter gibt es denn jetzt eigentlich? Auf Facebook stand mal, es würde 50 geben! Aber stimmt das?”
Antwort: Ja und nein.
Diese 50 Geschlechter, die Facebook mal unter grossem Medienrummel als Option zur Verfügung gestellt hat, die gibt es tatsächlich alle. Andere Quellen sprechen von 3 Geschlechtern. Wieder andere sagen es gibt über 100.
Welche Quelle hat denn jetzt Recht?
Alle. Und keine.
Zuerst mal: Es gibt keine gerichtliche Instanz, die festlegt wie viele Geschlechter es auf der Welt gibt. Was es gibt sind Menschen, die ihre Geschlechtsidentität ausdrücken indem sie sie in Worte fassen. Und dann gibt es Menschen, die diese Worte sammeln, aufschreiben und als Liste veröffentlichen.
Also stellen wir uns vor, Personen A, B, C,
D, E, F, G, H, I und J leben irgendwo auf dieser Welt in einer Gesellschaft, in
der es für Geschlecht nur die Kategorien „Mann“ und „Frau“ gibt.
Personen A, B, C, D, E, F, G, H, I und J merken alle, dass sie nicht in
diese zwei Kategorien hineinpassen.
Sie denken darüber nach, warum genau sie nicht in diese Kategorien
hineinpassen, an welchen Stellen sie sich davon nicht beschrieben fühlen, und
welche Aspekte nicht auf sie zutreffen.
Person A merkt, dass sie mit diesen
Kategorien, und allem was damit assoziiert ist, überhaupt nichts anfangen kann.
Sie erklärt: „Ich habe kein Geschlecht. Dieses Konzept trifft auf mich einfach
nicht zu.“
Person B spürt, dass auf sie eher eine Kombination dieser zwei Kategorien
zutrifft. Sie beschreibt das so: „Ich bin eine Person, die in gewissen Aspekten
eine Frau ist, und in gewissen anderen Aspekten ein Mann. Ich vereine beides in
mir.“
Person C entscheidet, eine dieser Kategorien für sich ein Stück weit öffnen.
Sie sagt über ihr Geschlecht: „Ich bin ein untypischer Mann, aber
nichtsdestotrotz ein Mann“.
Person D wiederum ist es schlicht und einfach egal, dass sie von Menschen in
ihrem Umfeld in eine der Kategorien gesteckt wird. Die Kategorien haben nichts
mit ihrer Identität zu tun, sie fühlt sich davon nicht beschrieben und benutzt
sie auch nicht um sich selbst zu bezeichnen.
Person E empfindet sich als losgelöst von den zwei bekannten Kategorien, aber
dennoch nicht frei vom Konzept Geschlecht. Sie sagt: „Ich habe ganz eindeutig
ein Geschlecht. Aber dieses Geschlecht hat weder etwas mit der Kategorie Mann
zu tun, noch mit der Kategorie Frau.“
Person F fällt auf, dass die Geschlechts-Identitäten der anderen Personen
offenbar statisch sind und sich nicht verändern, ganz im Gegensatz zu ihrer
eigenen! Sie beobachtet, dass an manchen Tagen durchaus eine der bekannten
Kategorien auf sie zutrifft, aber an anderen Tagen ganz entschieden nicht.
Einige dieser Personen sind bestimmt zufrieden damit, ihre Geschlechtsidentität mit solchen Aussagen zu beschreiben. Manche möchten jedoch ein kürzeres, prägnanteres Wort dafür, und landen zum Beispiel bei „geschlechtslos“ oder „weiblicher Mann“. Andere bedienen sich bei anderen Sprachen, zum Beispiel Latein und Griechisch, daraus entstehen Wörter wie „androgyn“ oder „agender“. Wieder andere erfinden eigene Begriffe oder kombinieren verschiedene, zum Beispiel zu „neutrois“ oder „genderfluid“.
Manche dieser Personen beschreiben ihre
Erkenntnisse und ihr neu gefundenes Wort in einem Blogpost oder auf Facebook.
Manche erzählen begeistert ihrem Umfeld, Freund_innen und Familie davon. Manche
starten eine Petition, damit der korrekte Begriff auch in ihrem Ausweis stehen
kann.
Auf jeden Fall werden früher oder später andere Leute darauf aufmerksam.
Person G findet sich vielleicht in einer der
Erklärungen wieder, und benutzt ab sofort auch den darin vorgeschlagenen neuen
Begriff für ihre Geschlechtsidentität.
Person H empfindet zwei der neuen Begriffe beide als für sich passend, und
kombiniert sie einfach.
Person I merkt, dass ein bestimmter der neuen Begriffe zwar auf sie zutrifft,
aber nicht zu 100%. Sie fragt unsicher, ob sie den Begriff trotzdem für sich
benutzen darf, obwohl sie nicht perfekt auf die dazugehörige Beschreibung
passt? Natürlich darf sie!
Person J fühlt sich inspiriert von der kreativen und rebellischen Energie
dieser neuen Begriffe, und traut sich darum nun auch endlich, Worte für ihre
Geschlechtsidentität zu finden. Ein weiterer neuer Begriff entsteht.
Und nun stellen wir uns vor, dass das
überall auf der Welt passiert.
Auf der ganzen Welt trauen sich Menschen, ihre Empfindungen zum Konzept
Geschlecht in Worte zu fassen. Sie tun dies, seit es überhaupt Kategorien für
Geschlecht gibt.
Und heute, Dank des Internets, können sich Personen A, B, C, D, E, F, G, H, I
und J direkt und in Echtzeit miteinander und mit vielen anderen Personen
austauschen. Sie finden heraus, dass das Konzept Geschlecht ganz viele
unterschiedliche Aspekte hat, und dass für alle Menschen ganz individuell manche
Aspekte wichtig sind und andere unwichtig. Sie merken, dass manche Personen
ihre Geschlechtsidentität zwar sehr ähnlich beschreiben, aber trotzdem
verschiedene Begriffe dafür verwenden möchten. Und andersrum verwenden manche
Personen dieselben Begriffe für sich, interpretieren sie jedoch
unterschiedlich.
Irgendwann zwischendrin sagt sich mal jemand
„Leute, ich blicke nicht mehr durch! Lasst uns mal sammeln, welche Begriffe es
gibt, und erklären was die für uns jeweils bedeuten.“
So entstehen Listen von Geschlechtsidentitäten.
Aber natürlich gehen da welche vergessen,
oder werden bewusst ausgelassen. Denn oft ist es eine Sache von Geschmack,
politischer Einstellung und dem persönlichen Ziel, welche Begriffe auf
einer Liste auftauchen und welche nicht. Also entstehen verschiedene Listen.
Auch die Herangehensweisen sind unterschiedlich. Die eine Person macht
vielleicht eine Umfrage und sammelt alle Begriffe, die die
Umfrage-Teilnehmenden für ihre Geschlechtsidentität angeben, während die andere
Person Blogs und soziale Medien durchforstet, um Begriffe zu sammeln.
Wiederum eine andere Person übersetzt diese Liste in eine andere Sprache und
fügt Begriffe hinzu, die nur in dieser Sprache bekannt sind. Eine dritte Person
übersetzt die übersetzte Liste in wiederum eine andere Sprache, und fügt
ebenfalls neue Begriffe hinzu.
Welche dieser Listen ist denn jetzt die
offizielle?
Keine liegt falsch, aber es gibt auch keine, auf der die volle Wahrheit steht.
Für jeden Begriff den du auf irgendeiner
Liste von Geschlechtsidentitäten findest, gibt es mindestens eine Person, die
sich von diesem Begriff perfekt beschrieben fühlt.
Aber genauso sicher gibt es Geschlechtsidentitäten, die auf dieser Liste
fehlen.
Es kommt irgendwann der Tag, an dem
„offizielle Stellen“ darauf aufmerksam werden, dass da Leute existieren, die
mit den vorgegebenen Kategorien nicht zufrieden sind. Sei es, weil diese
Stellen den Leuten etwas verkaufen wollen, oder weil die Leute oft und laut
genug protestiert haben, oder weil sie sogar selber zu diesen Leuten gehören.
So beauftragt zum Beispiel Facebook irgendeine Person damit, die bisherigen
Kategorien „Frau“ und „Mann“ zu ergänzen. Die beauftragte Person nimmt irgendeine
der Listen – vermutlich streicht sie davon noch Begriffe weg, oder fügt einige
hinzu, und wenn sie sich nicht auskennt, dann nimmt sie wahrscheinlich Begriffe
die da gar nicht hingehören – und fügt sie bei Facebook ein.
Eine andere Stelle sagt sich „ja nun, es
gibt also nicht nur Mann und Frau, sondern auch noch andere. Aber niemand ist
sich einig, wie viele andere, und welche genau. Also belassen wir es doch
einfach bei den dreien: Frau, Mann und andere.“
Wiederum eine andere Stelle findet „das ist eine sinnvolle Vereinfachung, 3
klingt nach einer Anzahl mit der wir arbeiten können. Aber der Begriff ‚andere‘
gefällt uns nicht, wir denken uns einen eigenen Begriff für die 3. Kategorie
aus!“
Und schon sind wieder drei Geschlechter mehr
entstanden.
Es gibt Leute die sagen, dass es so viele Geschlechter gibt wie es Menschen
gibt. Bis zu einem gewissen Grad stimmt das, denn Geschlechtsidentitäten sind
sehr vielfältig und individuell verschieden. Wenn du zwei Frauen fragst, was
„Frau sein“ für sie bedeutet, dann bekommst du wahrscheinlich zwei ganz
unterschiedliche Antworten!
Aber dennoch bezeichnen sich ja beide Frauen als „Frau“. Und auch bei allen
anderen Begriffen gibt es Tausende bis Millionen von Menschen, die den gleichen
Begriff für sich benutzen, also in dem Sinn das gleiche Geschlecht haben.
Also wie viele Geschlechter gibt es denn
jetzt? 3? 50? 100?
Es kommt darauf an, wen du fragst. Es kommt darauf an, was du mit dieser Zahl
aussagen willst. Und es kommt darauf an, warum du überhaupt eine genaue Zahl
haben möchtest.
Fest steht: Es gibt mehr als 2.
Aber wie viele genau? Nun ja, so viele wie es eben braucht.