Kummerkastenantwort 672 – Es macht mich unglücklich, ein Label gefunden zu haben

Hallo liebes Kummerkasten-Team,

Ich hätte da eine Frage:
Wie kann es sein, dass ich mich dadurch, dass ich ein passendes Label gefunden habe unwohler fühle als vorher, als ich noch keins hatte?

Ich meine, es soll jetzt nicht assi oder so klingen…
Aber als ich mich noch nicht so ausführlich mit dem Thema Queer etc. beschäftigt habe, war ich einfach ich.
Ich war zwar nie ein typisches Mädchen, aber ich hab nie so zu 100% angezweifelt, dass was nich stimmt.
Klar waren Gedanken da, aber sie waren eben ein Teil von mir und das hat mir gereicht.

Seit ich mich aber mit dem Thema beschäftige und immer tiefer in die Materie gehe, is es irgendwie komisch.
Seit ich ein label gefunden habe, habe ich das Gefühl eben nur noch dieses label zu sein und seit dem fällt es mir auch viel viel mehr auf als vorher…

Am liebsten würde ich manchmal einfach zurückspulen und mich nicht mit dem ganzen Thema beschäftigen…
Geht das nur mir so?!?

Hallo du,

die kurze Antwort ist: Nein, das geht sicher nicht nur dir so. Ich kann sogar aus eigener Erfahrung sagen: Mir ging es auch schon so. Und das ist okay – deine Gefühle sind nicht ‘falsch’ oder so, sie sind einfach deine Gefühle.

Liegt es am Label selbst?

Vielleicht hilft es ein wenig zu überlegen, was der Grund dafür ist, warum du dich unwohler fühlst. Liegt es vielleicht an dem Label selbst? Vielleicht passt zwar die Definition auf dich, aber es fühlt sich trotzdem nicht richtig an? Dann musst du es nicht benutzen und darfst es einfach fallen lassen. Du kannst entweder schauen, ob du was findest, was sich besser anfühlt, oder einfach zum vorigen zurückkehren.

Oder steckt was anderes dahinter?

Ich habe allerdings den Eindruck, dass es bei dir weniger um den Begriff selbst geht, sondern um alles, was an dem Begriff dran hängt. Du schreibst, dass du das Gefühl hast, dass sich jetzt bei dir alles nur noch um dieses Label dreht und alles andere in den Hintergrund rückt. Und dass das nicht unbedingt ein angenehmes Gefühl ist. Das ist total verständlich! Etwas, was bisher nur irgendwo in deinem Hinterkopf rumgespukt ist, ist jetzt nach ganz vorne gerückt und lässt sich nicht wieder einfach wegschieben.

Sieh’s mal so: Wenn du irgendwann merkst, dass das komische Gefühl in deinem Kopf und deinem Mund Durst ist, dann ist es auch plötzlich sehr schwer, nicht mehr dran zu denken. Der Durst lässt sich auch nicht einfach wegschieben und es fühlt sich sicher unangenehmer an als vorher, und irgendwie dringender. Aber nur zu wissen, dass du durstig bist, löst ‘das Problem’ nicht – du hast ja dadurch nicht automatisch was getrunken.

Vielleicht stehst du gerade mit deinem Label auch an so einem Punkt.

Noch viel zu tun

Zwar weißt du jetzt vielleicht besser, was bei dir Sache ist, aber das hat ‘dein Problem’ nicht gelöst. Das bedeutet, dass du wahrscheinlich immer noch ganz viele Fragen hast, wer du bist und was das alles für dich bedeutet. Dass du immer noch die gleichen Situationen im Alltag hast, wo du irgendwie nicht ganz in die Erwartungen von anderen Menschen reinpasst – nur jetzt fällt es dir noch mehr auf. Dass es wahrscheinlich auch noch zudem unangenehmer wird, diese Erwartungen überall zu spüren.

Der Weg ist leider beim gefundenen Label nicht vorbei. Plötzlich musst du Entscheidungen treffen, was du mit dem Wissen über dein Label anfangen willst: ob du was ändern willst, an dir selbst oder deinem Umfeld. Plötzlich wird sowas wie Ausgrenzung und Diskriminierung viel mehr spürbar. Und das lässt sich leider nicht alles einfach wieder zurückspulen oder ignorieren. Das kann ganz schön viel Kraft kosten und erschöpfend sein.

Du bist nicht allein damit!

Aber das Gute an einem Label ist: Es steht eine Community dahinter. Ein Label bringt viele Leute mit ähnlichen Erfahrungen zusammen, für einen gemeinsamen Austausch und gegenseitige Unterstützung. Das Internet ist dafür ganz wunderbar, aber auch Jugendgruppen oder queere Zentren oder Gruppen jeder Art können da helfen. Und selbst, wenn du niemanden kennst, der dein Label teilt: Das Label kann dir dabei helfen, anderen Leuten von deinen Erfahrungen zu berichten und ihnen besser zu erklären: Das bin ich. Das beschäftigt mich und das geht in meinem Leben ab.

Immer noch du selbst

Und keine Sorge: Gerade fühlt sich das Thema vielleicht sehr dringend und sehr im Vordergrund an, aber das wird nicht immer so sein. Vor allem dann, wenn du Leute um dich hast, mit denen du einfach du selbst sein kannst, wird es ganz einfach sein, dein Label einfach nur zu einem weiteren Teil von dir zu machen. Du bist ein ganz wunderbarer Mensch mit vielen wunderbaren Teilen, und vielleicht ist ein Label eins davon, aber früher oder später muss es nur so wichtig sein, wie du es möchtest.

Ich hoffe, du findest deinen Frieden mit deinem Label und all den Dingen, die in dir vorgehen. Dafür wünsche ich dir alles, alles Gute!

Balthazar

PS: Kennst du die Matrix-Filme? Die sind eigentlich ein super Vergleich! Die Filme wurden von zwei trans Frauen gemacht, sind eine Metapher fürs Transsein und stellen genau die gleiche Frage: Ist es besser unwissend zu bleiben und ein ruhiges Leben zu führen? Oder ist es besser, all das Wissen zu kriegen, danach mit der Last dieses Wissens leben zu müssen und Entscheidungen treffen zu müssen? Vielleicht gibt es keine klare Antwort darauf, aber vielleicht hilft es ja schon zu wissen, dass viele Leute sich schon mit dieser Frage beschäftigt haben.

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