Queere Fortschritte in der Schweiz
Ein Gastbeitrag von Alecs Recher, Mitgründer von Transgender Network Switzerland.
Ein Selbstbestimmungsgesetz
Das fordert die trans Community in Deutschland seit Jahren, und das soll mit der Ampelkoalition nun endlich auch kommen. Denn wer weiss schon besser als ich selbst, welcher Geschlechtseintrag zu mir passt? Genau deshalb wollen trans Menschen selbst bestimmen können, ob und wann ihr Geschlechtseintrag angepasst werden soll. In der Schweiz ist das seit Anfang 2022 für die meisten auf einfache Weise möglich.
Blicken wir aber zuerst ein paar Jahre zurück. Es ist noch nicht lange her, da verlangten Schweizer Gerichte von trans Menschen einen Nachweis, dass sie keine Kinder mehr bekommen können. Nur um die Namen und Geschlechtseintrag passend zu machen. Erst als die trans Community immer lauter ein Ende dieses Unrechts forderte, begann der Bundesrat (die Schweizer Regierung), sich darüber Gedanken zu machen. Im Mai 2018 präsentierte die zuständige Bundesrätin dann ihren Vorschlag: Erwachsene trans Menschen sollen mit einer einfachen Erklärung gegenüber dem Zivilstandsamt unkompliziert ihren Geschlechtseintrag und Vornamen an ihre Geschlechtsidentität anpassen können.
Dreieinhalb Jahre und einen parlamentarischen Marathon später ist das Gesetz anfangs 2022 in Kraft getreten. Die Organisation Transgender Network Switzerland gibt auf ihrer Website einen Überblick über das neue Verfahren mit einer Schritt-für-Schritt-Anleitung. Mit diesem neuen Verfahren haben in einem Monat bereits etwa 100 Menschen ihren Geschlechtseintrag geändert. Davor waren es in einem ganzen Jahr etwa 200. Im Grundsatz funktioniert das Selbstbestimmungsgesetz also.
Das Schweizer Selbstbestimmungsgesetz
- Die Änderung ist tatsächlich selbstbestimmt. Keine Person muss ihr Geschlecht verteidigen oder begründen, ärztliche oder psychologische Bestätigungen sind nicht mehr notwendig.
- Es geht schnell und kostet nur noch 75.- Franken (ca. 70 €) statt wie bisher mehrere hundert Franken.
Ist damit nun alles gut? Nein, das wäre für Transrechte im Jahr 2022 zu schön… Wo floppt das Gesetz also noch?
- Die Selbstbestimmung gilt nicht für alle. Jugendliche unter 16 Jahren und Menschen unter umfassender Beistandschaft (= Vormundschaft) brauchen die Zustimmung ihrer gesetzlichen Vertretung. Meistens sind das die Eltern. Zwar hat das Parlament diese Altersgrenze von 18 auf 16 Jahre gesenkt. Es ist dennoch eine unsinnige Fremdbestimmung, die nur Schaden anrichten wird.
- Praktisch ist die Änderung für geflüchtete trans Menschen nicht so leicht zugänglich wie für die anderen.
- Das Gesetz gilt nicht für reine Vornamensänderungen. Dafür sind weiterhin die komplizierten und teuren Prozeduren der Kantone in Kraft.
- Anders als in Deutschland anerkennt die Schweiz nur „F“ und „M“. Nicht, dass es hierzulande keine nicht binären Menschen gäbe – aber für diese Anerkennung müssen wir noch weiter kämpfen.
Ehe für gleichgeschlechtliche Paare
Schon vor längerer Zeit geklärt hat die Schweiz, dass auch verheiratete trans Menschen ihren Geschlechtseintrag ändern können und verheiratet bleiben. Gleichgeschlechtliche Ehepaare gibt es also schon eine ganze Weile. Und doch ist die geschlechtsneutrale Ehe der andere grosse Fortschritt für queere Menschen, den die Schweiz nun endlich geschafft hat. Als fast letztes Land Westeuropas! Dafür aber mit einer fulminant gewonnenen Volksabstimmung: 64 % sagten im September 2021 Ja zur geschlechtsneutralen Ehe und nicht ein Kanton hat dagegen gestimmt (das kommt seltener vor als ein 29. Februar!). Ab 1. Juli 2022 steht es einer Heirat also nicht mehr im Weg, wenn beide Partner_innen mit dem gleichen Geschlecht eingetragen sind. Eingetragene Partnerschaften bleiben bestehen oder können zur Ehe umgewandelt werden.
Ich schreibe hier übrigens bewusst nicht von einer „Ehe für alle“. Aus dem Eherecht wurde zwar die Homofeindlichkeit weitgehend gestrichen. Die ganze Fremdenfeindlichkeit ist aber unverändert drin. Ist der Staat der Ansicht, ein binationales Paar heirate nur, damit die Person ohne Schweizer Pass ein Aufenthaltsrecht bekommt, kann die Ehe weiterhin verweigert werden. Oder wenn die Schweizer_in nicht genug Einkommen für beide hat, kommt es vor, dass sie und ihre ausländische Partner_in nicht heiraten können. Auch nach dem 1. Juli 2022 können also nicht alle Paare in der Schweiz heiraten – von Mehrfachbeziehungen ganz zu schweigen.
Wurde zumindest die ganze Homofeindlichkeit aus dem Eherecht gestrichen? Leider auch das nicht. Eine Benachteiligung, die cis Frauen und ihre Kinder am stärksten trifft, hat das Parlament eingebaut. Bringt eine verheiratete Frau ein Kind zur Welt, wird ihre Ehefrau mit der Geburt automatisch auch rechtliche Mutter. Aber – und das ist der Unterschied zur Ehe mit einem Mann – nur, wenn das Kind gemäss dem Schweizer Fortpflanzungsrecht gezeugt wurde. Wenn also ein Frauenpaar ohne ärztliche Unterstützung, dafür zum Beispiel mit einer befreundeten Person zusammen, ein Kind zeugt, oder in eine Kinderwunschklinik im Ausland geht, dann hat das Neugeborene rechtlich nur eine Mutter. Die andere Mama kann dann nur durch die aufwändige Stiefkindadoption zweiter rechtlicher Elternteil werden.
Hier hat der Gesetzgeber nur an cis Menschen gedacht. Bei trans Menschen, die Eltern werden, ist noch einiges mehr unklar. So können beispielsweise eine trans Frau und eine cis Frau genau gleich wie cis-hetero Ehepaare ohne ärztliche Unterstützung ein gemeinsames Kind zeugen. Warum also sollte die trans Frau dann nicht gleich wie ein Ehemann automatisch rechtlicher Elternteil werden? Und wird sie dann als „Mutter“ oder als „Vater“ eingetragen?
Zwei grosse Schritte sind also erreicht, es bleibt aber noch einiges zu tun für die Schweizer Queer-Organisationen.