Vier Tage in Wien – Oder wieso ich zehn Jahre gebraucht habe um zu erkennen, dass ich bisexuell bin. 

Von unserem Gastautor P.

Der Abend des Ostermontag 2012 ist frisch, aber schön. Nach vier Tagen in Wien sind das Basketballteam und ich erschöpft wieder am heimatlichen Stadion angekommen und werden von unseren Eltern in Empfang genommen. Das jährliche Osterturnier war ein Erfolg; zwar konnte nicht das ganze eingespielte U18-Team fahren, aber dafür hatten wir Verstärkung über einen Freund unseres Coaches aus einer anderen Stadt bekommen. Alle vier dieser „Fremden“ waren bestimmt super Menschen und gute Basketballer, aber so richtig erinnere ich mich ehrlich gesagt nur noch an Max.

Max war ein großer Lockenkopf, verschmitzt, schlagfertig und von Anfang an auf der gleichen Wellenlänge wie ich. Wenn wir während eines Spiels gemeinsam auf der Bank saßen, wurden wir schnell genervt angeschaut, weil wir permanent geredet und gelacht haben. Wenn wir mit dem Team in der Stadt unterwegs waren, haben wir den Anschluss zur Gruppe verloren, weil wir uns über (andere) Touristen unterhalten haben. Es war mit ihm leicht und unkompliziert; einfach eine gute Zeit.

Die vier Tage gingen wie im Rausch vorbei und plötzlich stehen wir auf diesem Parkplatz und es ist genau das: Vorbei. Ich verabschiede mich erst von allen anderen, lasse mir Zeit, bevor ich Max gegenüberstehe und einsehen muss, dass ich ihn wahrscheinlich nicht mehr allzu bald wiedersehen werde. Wir umarmen uns und so richtig möchte ich ihn nicht loslassen. Aber dann ist es Zeit und mit einem letzten, mindestens leicht awkwarden Winken setze ich mich zu meiner Mutter ins Auto und wir fahren nach Hause. Die nächsten Tage sind gefüllt mit Klausurvorbereitung und familiärem Stress, sodass es lange dauert, bis ich noch einmal richtig über diese vier Tage in Wien nachdenke. Wirklich lange. So ungefähr zehn Jahre.

So lange hat es dann nämlich gedauert, bis ich kapiert habe, dass ich bisexuell bin. Jetzt kann man nicht ganz zu Unrecht fragen: Warum war dir das nicht seit Ostern 2012 klar? Aber ganz so einfach war und ist es ja leider nicht.

Im Vergleich zu anderen Coming Out-Stories hatte ich es eigentlich ganz einfach, sollte man meinen. Meine Eltern hatten verschiedene schwule Freunde, die ab und zu bei Mittagessen oder Familienveranstaltungen zu Besuch waren, und so richtig hetero war meine Mutter auch damals schon nicht. Ich wusste also, dass queere Menschen ganz real existieren und musste keine Angst vor familiären Problemen mit meiner Bisexualität haben. In der Schule war es zwar etwas schwieriger, weil sich niemand anderes geoutet hatte und beiläufige Homofeindlichkeit erst langsam weniger wurde, aber echte Zweifel, dass meine Freund*innen mich unterstützt hätten, habe ich auch aus heutiger Perspektive nicht. Aber so gut diese Rahmenbedingungen sind, helfen sie nur dann, wenn man versteht, dass man „etwas zu outen“ hat.

Und das war mein Problem.

Ich war ja schließlich „normal“. Daran, dass ich mich in Frauen verlieben konnte, gab es nämlich keine Zweifel. Ich hatte ja schon Annäherungen und Liebeskummer erlebt und wurde regelmäßig von meinem Körper darauf hingewiesen, dass die Attraktion nicht nur romantisch, sondern auch sexuell war. Allen leisen Gedanken, die meine Heterosexualität in Frage gestellt haben, konnte ich also entgegenhalten: Ich stehe doch auf Frauen, wie soll ich da etwas anderes sein? 

Leicht gemacht hat mir das auch die vollständige Abwesenheit von bisexuellen Männern in meiner Wahrnehmung. In meinem Umfeld gab es niemanden, in den Büchern, die ich gelesen habe, gab es höchstens Nebencharaktere und den ersten bisexuellen Mann in Filmen und Serien, der nicht als komisch dargestellt wurde (oder zumindest nicht deshalb), habe ich 2020 in Schitt’s Creek gesehen. Es ist kein Geheimnis, dass queere Existenz in der Mainstream-Kultur lange gar nicht oder nur in Form überzeichneter, schwuler cis Männer zu sehen war, und auch heute reicht das Repräsentationsbudget meist nur für eine queere Person (oft in Personalunion mit der Person of color; man kann den Zuschauenden ja nicht zu viele „andere“ Leute auf einmal zumuten). Da ist es keine Überraschung, dass Menschen Bisexualität als ganzes übersehen oder die wildesten Vorurteile haben.

In diesem Kontext ist es dann nicht mehr so verwunderlich, dass mein “bisexuelles Erwachen” so lange auf sich warten ließ. Aus leisen Fragen, über die ich gar nicht weiter nachdenken musste, wurde dann zehn Jahre nach Wien das, was ich hier (überhaupt nicht pathetisch) meine persönliche Renaissance der Selbsterkenntnis nennen will. Ich konnte mir selbst offen Fragen stellen und diese mit einer im Vergleich zur Pubertät sehr erleichternden Entspanntheit beantworten. Was ich an Männern attraktiv finde, was ich mit attraktiven Männern gerne machen würde, wie ich mir eine Beziehung mit einem Mann vorstelle. Und die gleichen Fragen nochmal zu nichtbinären Menschen (die in meiner Jugend noch weniger repräsentiert waren). Und – vielleicht etwas überraschend – die gleichen Fragen nochmal zu Frauen. Denn mit diesem Coming Out mir selbst gegenüber habe ich überhaupt zum ersten Mal konkret darüber nachgedacht, welche Eigenschaften ich an anderen Menschen eigentlich anziehend finde.

Man kann bei diesem Thema sicher noch weit ausholen: Bifeindlichkeit (auch in queeren Räumen), Unsichtbarmachung von Bisexualität und fehlende Repräsentation sind wichtige Themen, zu denen sicherlich auch schon viel Kluges gesagt wurde. Aber ich habe weder etwas-mit-Medien™ noch etwas-mit-Pronomen™ studiert, deshalb überlasse ich das anderen.

Was ich sagen will, ist das hier: Ich habe trotz zahlreicher Kontaktpunkte mit queeren Menschen gebraucht, bis ich Ende 20 war, um zu kapieren, dass ich bi bin. Hätte es in den Medien, die ich konsumiert habe, bisexuelle Männer gegeben, hätte das wahrscheinlich nicht so lange gedauert, was ein echter Missstand ist. Aber es geht mir hier nicht um Wehmut wegen „verlorener Zeit“, sondern darum, dass man auch nach Jahren und Jahrzehnten, in denen man sich in seiner Persönlichkeit gefestigt fühlt, noch Dinge über sich selbst lernen und verstehen kann, die das eigene Leben nur bereichern. Deshalb ärgere ich mich nicht (mehr), dass es so lange gedauert hat, sondern bin froh, dass ich es irgendwann kapiert habe.

Es wäre doch schade, wenn es nur bei diesen vier Tagen in Wien geblieben wäre.

 

P ist um die 30 Jahre alt, bisexuell und verwendet er/ihm-Pronomen. Wenn er es nicht gerade vor sich herschiebt, Blogeinträge zu schreiben, ist er wahrscheinlich überfordert, verwirrt oder macht großartige Wortwitze, deren Genie meist unerkannt bleibt. Pff.

 

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