Kummerkastenantwort 541 – wieso ist agender-sein so kompliziert?
Hallo ihr tollen Menschen,
ich schreibe hier jetzt einfach meine Gefühle hin, damit sie aus meinem Kopf weg sind.
Mein Name ist Sascha und ich bin 17 Jahre alt, bald 18. Als ich 14 war, habe ich mich bei meinen Eltern als lesbisch geoutet, weil ich in eine gute Freundin verliebt war. (Die gute Freundin ist hetero und verliebt bin ich jetzt, drei Jahre später, immer noch, aber ich kann damit umgehen.)
Seit ich 15 bin habe ich begonnen, mein Geschlecht infrage zu stellen.Ich dachte, ich sei trans männlich. Damals war ich aufgrund von depressiven Phasen in psychologischer Behandlung, also habe ich hinter dem Rücken meiner Eltern einen Termin mit einem Gender-Therapeuten ausgemacht. (Unter dem Vorwand, ich würde zu meiner Psychologin gehen.) Dieser Therapeut hat mir gesagt, dass ich cis weiblich bin und mir einfach zu viele Gedanken mache. Das ist jetzt über ein Jahr her. Seit ungefähr einer Woche haben mich diese Gedanken wieder “heimgesucht”. (Vollkommen weg waren sie nie, aber ich hab sie immer zur Seite geschoben mit der Begründung “mein Therapeut hat gesagt…”)
Ich bin agender und das macht mir Angst. Ich dachte, ich könnte es ignorieren, weil mir meine Pronomen egal sind, aber es geht einfach nicht mehr. Mein Geburtsname stört mich seit gestern so sehr wie noch nie und auch meine Brust löst Wut in mir aus. So kenne ich mich gar nicht. Ich sage immer “mir ist egal was andere denken”, also dürfte es mir eigentlich nichts ausmachen, wie andere Leute mich sehen. Dennoch stört es mich, als weiblich gelesen zu werden. Es ist so paradox.
Ich habe zwar das Glück, einen Binder zu besitzen, aber ich traue mich selten ihn zu tragen, weil ich genau weiß wie gut mir eine flache Brust gefällt. Als ich meine Mutter vorsichtig darauf angesprochen habe, hat sie gesagt “Ich weiß, dass du dich zu Frauen hingezogen fühlst und das ist okay, aber du bist kein Junge.” Das Problem ist, sie hat ja sogar recht. Ich bin genau so wenig ein Junge, wie ich ein Mädchen bin. Aber das würde sie niemals verstehen.
Meine Eltern lieben mich, aber ich vertraue ihnen nicht mehr. Bei meiner Mutter weiß ich niemals woran ich bin, sie ist irgendwie immer passiv aggressiv. Mein Vater versucht mich zu unterstützen, aber sagen wir mal so, ein trans Junge ist für ihn ein “verwirrtes Mädchen” und mit nicht-binären Identitäten (wie eben meinem “agender”) brauche ich gar nicht erst anzufangen.
Mein Name ist Sascha, aber das kann ich meinen Eltern vermutlich niemals sagen. “Weibliche” Pronomen sind Gott sei Dank okay für mich, und auf meinen Geburtsnamen höre ich, weil ich muss. Am liebsten wäre mir eigentlich ein Pronomen wie “sier” und Bezeichnungen wie “Schüler*in”, so mit diesem Sternchen. Aber meine Familie würde mich bestimmt für verrückt erklären. Ich wette, sogar ein Therapeut würde mich für verrückt erklären.Mein Gott, warum muss das denn alles so kompliziert sein? Warum muss ich mich selbst erklären? Denkt die Außenwelt etwa, ich verstehe, warum ich so fühle? Nein, verdammt nochmal, ich verstehe meine Gefühle nicht! Ich weiß nur, dass sich das Label “agender” irgendwie gut anfühlt. Warum reicht das nicht?
Ich will (noch) keine permanenten Veränderungen (offizielle Namensänderung, Mastektomie), aber ich habe Angst, das irgendwann zu wollen. Weil ich weiß, wie schwer der Weg bis dorthin sein kann.
Gut, ich habe euch jetzt wirklich genug vollgetextet. Ohje, das ist ja wirklich ein Roman geworden. Tut mir leid.
Liebe Grüße,
Sascha
Hallo Sascha,
erstmal Glückwunsch zu deiner Namenswahl, das ist ein wirklich hübscher Name! Ich wünsche dir, dass du Menschen findest, die ihn regelmäßig nutzen.
Gleichzeitig tut es mir sehr leid, dass du an so unempathisches, ignorantes und offensichtlich nicht queerfreundliches Therapiepersonal geraten bist. Du bist nicht verrückt und niemand außer dir hat das Recht, dir zu sagen, welches Label sich richtig anfühlt.
Du musst dich nicht dafür rechtfertigen oder erklären. Wenn sich das Label “agender” richtig anfühlt, dann ist es das richtige Label für dich. Viele queere Menschen haben das gleiche Problem, dass wir uns für unser Sein erklären müssen, weil es abweicht. Während normative Menschen wahrscheinlich genauso ins Grübeln kommen würden, würden sie nach ihren Gründen und Beweisen für ihr Sein gefragt werden.
Der Weg zur Personenstandsänderung ist lang und steinig, ja. Aber du kannst dich später immer noch dazu entscheiden, ihn zu gehen, wenn du möchtest. Du musst dich auch nicht outen, wenn du nicht willst.
Angst vor Queerfeindlichkeit zu haben, ist in Ordnung, genauso wie Verwirrung. Vielleicht könntest du dir eine queere Community suchen, die dich versteht? Der Regenbogenchat steht natürlich auch immer offen.
Alles Liebe
Fluff