Rezension: “Weltbilder. Wie Normen und Stereotype Gleichberechtigung verhindern”
Von unserem Teammitglied Annika.
Als ich 19 Jahre alt war, die Schule beendet hatte und zum Studium in die Großstadt zog, fand ich mich bald in einer sehr anderen Welt wieder. Unter den Feminist*innen, unter queeren Menschen, unter Menschen in der Hochschulpolitik. Die Personen, mit denen ich mich herumtrieb, verwendeten viele Begriffe. Sie sprachen über so viele wichtige Themen, von denen ich vorher noch nie etwas gehört hatte: Barrierefreiheit, Antirassismus, Frauenquoten. Und es gab nicht einfach das eine Buch, was ich dazu lesen konnte, um mich informieren und mitreden zu können. Ich glaube, Sira Busch hat dieses Buch für Menschen geschrieben, denen es geht wie mir damals.
Worum geht es in “Weltbilder”?
In “Weltbilder” geht es zumindest dem Untertitel und der Einleitung nach um Diskriminierung und Stereotype und wie sie unsere Welt und unser Denken prägen. Es geht darum, welchen Einfluss Machtverhältnisse wie Transfeindlichkeit oder Klassismus auf unser kollektives und individuelles Denken haben. Und es geht darum, was wir alles verlernen müssen, um eine gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Als Leser*innen lernen wir in Siras Buch etwas über Autismus, über Sexwork, über Rassismus, über Incels und über Schwangerschaftsabbrüche. Es ist an vielen Stellen ein Rundumschlag über wichtige Themen unserer Zeit. Oder spezifischer: wichtige Themen für einen Feminismus des 21. Jahrhunderts.
Das ist ein großes Vorhaben für ein kleines 200-Seiten Buch. Und leider ist das Vorhaben auch an einigen Stellen gescheitert.
Wie mir “Weltbilder” gefallen hat
Mein erstes Problem mit “Weltbilder” ist der Aufbau. Das erste Kapitel ist eine (viel zu ausführliche) Nacherzählung verschiedener Studien zu Rassismus. Es fehlt aber z.B. eine grundlegende Einführung dazu, was Rassismus genau ist, wie sich Rassismus im Alltag zeigt etc. Was wir genau aus den nacherzählten Studien mitnehmen sollen, wird leider auch nicht klar. Anschließend wird das Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit nach Miranda Fricker ausgeführt. Das ist zwar spannend, aber vielleicht auch sehr kompliziert für einen kleinen Einführungsband. Schließlich geht es um Normen, dann um “Was nicht zu tun ist” und schließlich um Lösungen. Dabei bleiben Hintergrundinformationen, z.B. zu Schwangerschaftsabbrüchen oder Intergeschlechtlichkeit einfach auf der Strecke. Stattdessen bekommen wir kontextlos einige Seiten von Siras persönlichen Gedanken zum Thema präsentiert. Insgesamt scheint ein übergreifendes Konzept für das Buch zu fehlen. Es ist eher eine Aneinanderreihung sehr unterschiedlicher Kapitel (und wäre vielleicht als Podcast oder Video-Essay deutlich besser gewesen).
Das “Was nicht zu tun ist” – Kapitel hat mich vermutlich am meisten verwirrt. Es geht darin laut Einleitung um Lösungsansätze bzw. “Unlösungsansätze” (S.147) (was auch immer das sein soll), also um Umgangsweisen mit Stereotypen, die eins unterlassen sollte. Die Themen in diesem Kapitel sind aber u.a. Incels, Fetischisierung, Pick-Me-Girls oder Alphamänner. Da frage ich mich ernsthaft, ob jemensch wirklich Fetischisierung als Lösung für Diskriminierung vorgeschlagen hat oder ob die Kapitelüberschrift und -einleitung einfach nur nicht zum Inhalt passen.
Das bringt mich zum zweiten Problem mit “Weltbilder”. Statt tatsächlich Informationen und Hintergründe zu vermitteln, vermittelt Sira uns seine:ihre Sichtweise zu Themen. Das kann an einigen Stellen hilfreich sein (weil eins dieses Buch auch als Argumentationshilfe benutzen könnte). Für Aufklärung funktioniert es aber nicht – gerade weil Siras Analysen viel zu oberflächlich sind; also nicht tief genug gehen, um das Problem an der Wurzel zu packen. Die Erwartung an die Leser*innen ist also, die Hintergründe schon zu wissen oder sie sich denken zu können. Beispielsweise beschränkt sich die Aufklärung über nicht-binäre Geschlechter im Prinzip auf eine Liste von Begriffen wie “Stargender” oder “Libragender”. Erklärungen für diese Begriffe gibt es allerdings nicht.
Sira imaginiert dabei immer Widersprüche und Argumente von Personen, die eine Sache anders sehen als er:sie und widerlegt diese dann. Da es aber nicht um reale Personen geht, die so etwas behaupten, sondern aus der Luft gegriffen ist, macht (mir) das leider keinen Spaß zu lesen. Und: Wenn ich Siras Einstellungen zu Instagram-Feminismus oder Neo-Pronomen lesen wollen würde, würde ich kein Buch lesen, das heißt “Wie Normen und Stereotype Gleichberechtigung verhindern” – denn darum geht es nicht.
Ich stimme Sira auch oft in seiner:ihrer Argumentation nicht zu (z.B. dass Kinder nie etwas für ihr Verhalten können) oder habe einige Widersprüche in der Argumentation entdeckt – das hat mich beim Lesen ordentlich frustriert. Oder Sira führt seine:ihre Meinung zu Dingen aus, die wirklich, wirklich irrelevant für das Buch sind. Zum Beispiel geht es auf S.105 darum, wann es legitim ist, eine romantische Beziehung zu beenden laut Siras Meinung. Gerade das Unterkapitel “Populismus im Feminismus” ist eine reine Zusammenstellung von Siras Kritik an Feminismus auf Instagram und dass dieser zu emotional, zu “getriggert” und zu wenig wissenschaftlich sei. Was das mit dem Buch und Siras eigentlicher Message zu tun haben soll, ist mir schleierhaft.
Was für mich als neurotypische Person allerdings sehr informativ zu lesen war, waren die Teile des Buches über Neurodiversität und Autismus. Sira bringt immer wieder seine:ihre eigene Perspektive als neurodivergente und queere Person in den Text ein, was spannend zu lesen ist. Eine tolle Denk-Anregung was für micht zum Beispiel die Stelle: “Stell dir mal vor, in The Big Bang Theory wäre Penny die autistische Person” (S.134).
Lesbarkeit und Wissenschaftliches Arbeiten
Die verwendete Sprache ist gut zu lesen und einfach zu verstehen (auch wenn das ständige Einschieben von Englischen Ausdrücken und Halbsätzen etwas nervig ist). Die Kapitel sind kurz und knackig. Was mich verwirrt, sind die Veränderungen innerhalb des Tons – mal lesen wir Wissenschaftssprache – mal klingt der Ton des Buchs, als säßen wir mit Sira abends am Küchentisch und diskutierten über Feminismus. Damit ändert sich auch das Niveau relativ oft. Es gibt Content Notes für Themen wie sexualisierte Gewalt, bevor diese ausgeführt werden. Das ist gut.
Wissenschaftlich ist leider einiges an diesem Buch auszusetzen: Die Quellenangaben für einige Behauptungen und Zitate sind schlecht oder fehlen ganz und es gibt kein Literaturverzeichnis am Ende des Buchs. Bei manchen Themen wurde offensichtlich ganz darauf verzichtet, etwas zu recherchieren. Das macht es praktisch unmöglich, mit diesem Buch weiterzuarbeiten (z.B. wenn eins für das Studium eine Hausarbeit zu Stereotypen schreiben wollen würde). Im Anhang findet sich dafür ein kleines Glossar, Ideen für geschlechtsneutral formulierte Mails und ein Essay über Kommunikation und Neurodiversität, der aber leider auch keine neuen Informationen zu den Kapiteln im Buch beisteuert.
Fazit
Was also ein kleines Lehrbuch sein könnte, für all die wichtigen Themen, die wir in der Schule nicht behandeln, ist im Ergebnis also leider eher eine Aneinanderreihung von Siras persönlichen Meinungen und hypothetischen Gesprächen – die entweder nicht überzeugen, weil wir als Leser*innen schon überzeugt sind, dass Hass auf Frauen oder Rassismus nicht so cool sind – oder nicht überzeugen, weil es keine (gute) Begründung für sie gibt. Und die Lösung, die Sira für alles vorschlägt (nämlich: verurteile keine Menschen bzw. wir sind alle unterschiedlich und sollten das respektieren) ist für ein solches Buch auch ein bisschen dünn. Eigentlich will ich dieses Buch mögen. Und es gibt auch durchaus einige spannende Ansätze und Gedanken in diesem Buch – aber vor allem hat es mich frustriert.
Das Queer Lexikon hat ein kostenloses Rezensions-Exemplar vom Verlag zugeschickt bekommen.