Kummerkastenantwort 5.690: Ich bin genderqueer und unsicher, ob ich die Energie habe, so zu leben
Ich bin Mitte 20 seit fast 10 Jahren als queer geoutet und habe „trotzdem“ eine Genderkrise.
Es ist nicht so, dass ich mir unsicher bin, ob ich auch genderqueer. Ich weiß, dass es so ist.
Ich bin mir nur noch nicht ganz sicher, was das für mich im Speziellen heißt. Aber ich weiß nicht, ob ich die Energie habe damit zu experimentieren, weil ich das Gefühl habe mich dann sofort jedem erklären zu müssen. Außerdem halte ich das schon so lange in mir, mich damit „zu outen“ fühlt sich an wie etwas, was ich nicht mehr zurück nehmen kann.
Und ich weiß nicht, ob ich die Energie habe, mich noch mehr von der Norm abzugrenzen und immer wieder Annahmen über mich richtig stellen zu müssen.
Ich fühle mich zwar grade auch nicht wohl, aber dieses Gefühl ist mir vertraut und ich bin nicht sicher, ob sich der Aufwand „lohnt“.
Habt ihr vielleicht ein paar Erfahrungsberichte von trans* und nicht-binäre Personen, die ihre Transition erst im Erwachsenenalter und evtl auch in einer Kleinstadt gestartet haben?
LG und schon mal Danke im Voraus
Hallo!
Du musstest sehr lange auf eine Antwort von uns warten, das tut uns leid.
Ich bin ein sichtbar queerer trans Mann und vor einigen Jahren aus einer Studentenstadt heraus und aufs Land gezogen. Ich habe meine Transition zwar (als Erwachsener) in der Stadt begonnen, wohne jetzt aber wie gesagt in einem kleinen, katholisch geprägten Dorf und bin obendrein im Handwerk tätig.
Meiner Erfahrung nach ist es (vorausgesetzt, man lebt nicht im letzten Nazi-Nest, sondern einfach „nur“ in einer konservativen Gegend) nicht deutlich anstrengender, sichtbar queer zu sein, als in der Stadt.
Es ist nur auf andere Art und Weise anstrengend. Statt dass man direkt von Fremden angepöbelt wird, wird vielleicht eher getratscht, weil ja ohnehin jeder jeden irgendwie kennt.
In beiden Fällen war es aber für mich sehr wichtig, dass ich mich von der Vorstellung losgemacht habe, irgendjemandem irgendetwas erklären zu müssen. Meine Kolleg*innen, Bekannten und Nachbarn müssen mich nicht verstehen, sondern lediglich akzeptieren. Ich bin da nicht in der Bringpflicht und den Erklärbär mache ich nur in Situationen, die ich mir selber aussuche. Manchmal amüsiere ich mich sogar ein bisschen dabei, zuzusehen, wie männliche Kollegen zunehmend verwirrt versuchen, meine Identität zu entschlüsseln. Klar, wenn jemand ehrlich und bemüht den Dialog sucht, dann versuchen ich der Person zu helfen. Aber nur erklären, um des erklären Willens, mache ich schon seit Jahren nicht mehr.
Ich benutze gerne die Sätze:
„Ich möchte das jetzt und hier nicht diskutieren, ich möchte lediglich, dass du höflich bist“ und „Das geht dich nichts an“
Es erfordert Übung, Leute so abzuwürgen, aber es ist eine sehr wertvolle Fähigkeit.
Ich kann dir nicht sagen, was du tun sollst. Ich weiß aber, dass mein Leben besser geworden ist, seit ich offen (gender)queer lebe und ich weiß, dass es den meisten queeren Menschen so geht.
Ich wünsche dir viel Glück auf deinem Weg!
LG
Elias