Kummerkastenantwort 364 – Ich bin plötzlich zur Zeit extrem dysphorisch; was kann ich tun?
TW: Hier geht es unter anderem um (körperliche) Dysphorie und Misgendering. Außerdem wird Corona erwähnt.
Hallo Queer-Lexikon Team,
Ich bin afab, aber weiß schon seit etwa einem Jahr, dass ich trans bin (die ersten Vorahnungen hatte ich schon länger her, aber seit einem Jahr bin ich mir sicher). Ich sehe mich selber als genderqueer, und benutze alle Pronomen, aber hauptsächlich er/ihn, weil ich mich dadurch wohler fühle, als würden mich Menschen nicht mehr als Mädchen sehen.
Ich hatte früher selten richtige Dysphorie, mir ging es nie schlecht als Mädchen, aber dann habe ich rausgefunden, dass es mir als genderqueer Person sogar besser geht. Ich bin bei meinen Freunden geoutet, und gehe relativ offen mit meiner Genderidentität um (außer bei meiner Familie, die wissen nichts. Ich habe extreme Angst mich zu outen).
In letzter Zeit häufen sich aber Phasen, in denen es mir richtig dreckig geht. Ich hasse es, dass ich von anderen noch so oft als Mädchen gesehen werde, jedes Mal wenn mich jemand misgendert nehme ich es mir viel zu sehr zu Herzen, und ich hasse es, wenn meine Eltern mich “Süße” oder “Hübsche” nennen, auch wenn das natürlich nur lieb gemeint ist. Sogar Freunde, bei denen ich mich direkt mit er/ihn Pronomen vorgestellt habe, nennen mich manchmal “sie”, und vielleicht interpretiere ich da auch zu viel rein, aber es fühlt sich so an, als würden sie mich trotzdem als Mädchen sehen, einfach weil mein Körper weiblich ist.
Das führt dazu, dass ich manchmal Körperdysphorie bekomme. Hatte ich früher nie, und es fühlt sich so schlimm an, ich kann es nicht beschreiben. Vor einer Weile lag ich mit ein Paar Freunden herum, mein Kopf auf der Brust von meinem besten Freund, und ich war auf einen Schlag so verdammt eifersüchtig auf ihn, weil er eine flache Brust hat, dass mir die Tränen gekommen sind. Ich weiß nicht wie ich weiter damit umgehen soll, vorallem, weil ich wegen der ganzen Covid19-Situation erstmal zuhause festsitze. Ich rede mit Freunden darüber, aber egal was, es wird nicht besser. Ich weiß nicht mehr, wo ich mir Hilfe suchen soll, oder was ich machen soll, und habe jetzt entschieden, euch zu schreiben.
Danke ❤️
Hallo du,
Dysphorie ist echt nicht einfach und es tut mir leid, dass du damit zu kämpfen hast. Es ist sehr verständlich, dass du dich inzwischen oft dysphorischer fühlst als früher und dass es dich inzwischen mehr belastet, von anderen falsch als Mädchen wahrgenommen zu werden – immerhin weißt du ja inzwischen, wie gut es sich auch anfühlen kann, als genderqueer wahrgenommen und angesprochen zu werden. Das geht vielen trans Menschen nach dem Coming Out so. Jetzt, wo du weißt, was für dich richtig ist, und es auch anderen gesagt hast, fällt es eben viel mehr auf, wenn Menschen sich nicht daran halten. Vor allem wenn die Leute, die es eigentlich besser wissen sollten, sich dann mal im Pronomen vergreifen, kann das wehtun. Dieser Schmerz und diese Enttäuschung sind auf jeden Fall keine Überreaktion von dir, sondern vollkommen berechtigt! Auch, wenn Leute es nicht böse meinen oder es nur ein Versehen war, hast du trotzdem ein Recht darauf, verletzt zu sein. Von trans Menschen wird oft verlangt, dass sie immer verständnisvoll und geduldig sind, wenn sie misgendert werden. Das ist nicht fair.
Leider gehen aber die meisten cis Personen nicht gut damit um, wenn sie korrigiert werden oder wenn sie sehen müssen, dass ihre Worte eine trans Person verletzt haben. Es sollte eigentlich nicht die Aufgabe von trans Menschen sein, dann immer rücksichts- und verständnisvoll zu sein, aber leider läuft es trotzdem oft so.
Hier sind einige Vorschläge, was du tun kannst:
- Such dir Verbündete. Vielleicht gibt es in deinem Freundeskreis eine oder mehrere Personen, die sich wirklich Mühe geben, dich richtig anzusprechen. Du könntest sie z.B. bitten, in Zukunft andere zu korrigieren, die dich falsch ansprechen. Dann musst du das nicht immer übernehmen, und es hilft gegen Dysphorie oft ungemein zu wissen, dass Menschen auf deiner Seite sind und dich so akzeptieren, wie du bist.
- Umgib dich mit anderen trans Menschen. Trans Menschen wissen wie niemand sonst, wie wichtig es ist, richtig angesprochen und gesehen zu werden. Du kannst z.B. eine Community oder einzelne Personen online oder (nach Corona) in einer Jugendgruppe, einem Stammtisch, einer Schul- oder Unigruppe finden. Dann könnt ihr euch gegenseitig unterstützen oder auch mal über Dysphorie und Misgendering ausjammern. Das kann echt gut tun.
- Wenn du kannst und möchtest, sprich mit den Leuten über deine Gefühle. Viele cis Leute denken, es hat nur was mit “political correctness” zu tun, die richtigen Pronomen zu verwenden. Sie verstehen nicht, was es mit trans Menschen macht, wenn sie ständig falsch angesprochen werden. Darüber zu reden, dass dich das verletzt und dass du dich dann nicht richtig gesehen fühlst, kostet viel Kraft. Aber wenn du diese Kraft gerade hast, dann kann es sich lohnen, darüber zu sprechen, um den Leuten klar zu machen, dass es um mehr geht als nur ‘Korrektheit’.
- Falls du das bisher nicht hast: Überlege dir, ob Psychotherapie für dich infrage kommt. Es gibt viele Therapeut*innen, die sich mit trans-Themen gut auskennen und die wissen, was für eine Belastung Misgendering und Dysphorie sein kann. Es ist echt wertvoll, eine professionelle Person zu haben, mit der du über diese Probleme reden kannst. Auch, weil du schreibst, dass du sehr eifersüchtig auf die flache Brust deines besten Freundes geworden bist, kann es sinnvoll sein, eine Therapie zu machen – dort kannst du dann für dich herausfinden, ob du z.B. eine Mastektomie (also eine Operation zur Brustabnahme) machen möchtest, und der*die Therapeut*in kann dir dabei helfen, Zugang dazu zu bekommen, wenn du das möchtest.
Ich hoffe, das konnte dir ein bisschen weiterhelfen. Ich wünsche dir alles Gute, und dass du bald den Rückhalt und die Unterstützung bekommst, die du brauchst.
Viele Grüße,
Balthazar