„Hab keine Angst, du bist gut so wie du bist!” – Ein Interview mit Linus Giese

Am 18. August 2020 ist das Buch „Ich bin Linus – Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war” im Rowohlt-Verlag erschienen.

Wir treffen Linus Giese, den Autor des Buches, Germanist, Buchhändler, Blogger, Aktivist und trans Mann online, um mit ihm über sein Buch und die Geschichte dahinter zu sprechen.

Hallo Linus, schön, dass du Zeit hast für uns. Im Moment bist du viel beschäftigt und steckst mitten in den Vorbereitungen deines neuen Jobs, wie man auch auf deinen Social-Media-Kanälen (Twitter und Instagram) gut sehen kann. Erzähl uns doch mal, was machst du ab Dezember?

Ich arbeite zur Zeit zusammen mit Emilia von Senger an der Eröffnung des Buchladens She Said, im Moment fließt schon viel von meiner Energie in die Vorbereitung und die Zusammenstellung des Sortiments – ab Anfang Dezember geht es dann hoffentlich endlich richtig los. Ich sage „endlich“, weil es mir wirklich fehlt, im Buchladen zu stehen – auch der Kontakt mit Kund*innen fehlt mir. Ich freue mich wirklich sehr auf die Arbeit! Dieses Corona-Jahr ist extrem seltsam, gemeinsam mit einem Team zu arbeiten, das tolle und spannende Visionen hat, ist für mich deshalb gerade eine große Stütze.

Wie kam es zu dem Job bei dir als Buchhändler? War das schon immer dein Traumjob?

Nein, das war – wie so vieles andere in meinem Leben – eher ein Zufall. Ich hab ursprünglich mal Germanistik studiert und wusste dann lange nicht so genau, was ich jetzt eigentlich machen möchte. Gleichzeitig betrieb ich damals schon seit ein paar Jahren einen Literaturblog, auf dem ich Bücher vorstellte und Autor*innen interviewte. Irgendwann dachte, dass ich – wenn ich so gerne über Bücher spreche –, das doch auch hauptberuflich machen könnte. Ich bin dann quereingestiegen und habe das bis heute nicht bereut.  

Auswahl an diversen Büchern zum Thema trans – Bild-Copyright: Linus Giese

Inzwischen bist du aber nicht nur Buchhändler und Spezialist und Blogger für Buchtipps mit diversen Charakteren, sondern auch selbst Buchautor eines Memoirs, also deiner eigenen Biografie. Wie wichtig war es für dich deine eigene Geschichte aufzuschreiben?

Ich sage oft, dass das Schreiben des Buches eine Art therapeutischen Effekt hatte und das stimmt sicherlich auch. Ich habe beim Schreiben viele Dinge noch einmal hervorgeholt und angeschaut, die ich lange verdrängt habe. Aber ich glaube, dass ich das Buch zu großen Teilen tatsächlich nicht nur für mich geschrieben habe. „Ich bin Linus“ gibt es nicht nur, weil ich endlich mal meine eigene Geschichte aufschreiben wollte: Ich habe dieses Buch in der Hoffnung geschrieben, mit meiner Geschichte vielleicht anderen Menschen helfen zu können.

Für alle, die das Buch vielleicht noch nicht gelesen haben: Wann hast du selbst für dich gemerkt, dass du trans bist?

Ich habe schon relativ früh gespürt, dass „etwas nicht stimmte”. Ich hatte damals aber noch keine Worte oder Begriffe, um zu sagen, was mit mir los war oder um Hilfe zu bitten. Ich wusste gar nicht, was das Wort trans bedeutet. – Ich bin in den 90ern aufgewachsen und war schon 16 Jahre alt, als ich zum ersten Mal eine trans Person im Fernsehen sah. Die Möglichkeit, dass ich ein trans Mann sein könnte, war für mich lange etwas, was weit entfernt oder sogar unerreichbar war. 

Und, wie ging es dann weiter?

Der Coming-out-Prozess hat dann tatsächlich gedauert, bis ich 31 Jahre alt war. Im Sommer 2017 habe ich mich von meiner damaligen Freundin getrennt und zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl gehabt, ganz alleine darüber entscheiden zu können, was ich mir für mein Leben wünsche – ohne Rücksicht nehmen zu müssen auf meine Familie oder Partnerin. Ich habe mich dann als trans Mann geoutet und bin nach Berlin gezogen. Das hat mein Leben total auf den Kopf gestellt.

Du hast dich als trans Mann geoutet, in dem du deinen Starbucks-Becher mit deinem richtigen Namen auf deinen Social-Media-Kanälen gepostet hast – dein Buchcover ziert wunderbar gelungen, dieses so wichtige Ereignis für dich. Doch viele queere Menschen trauen sich noch nicht mal ein Outing in ihrem engsten Bezugskreis. Wie hat sich angefühlt, das direkt öffentlich zu posten?

Für mich hat es sich erstaunlicherweise viel leichter angefühlt mich vor Fremden zu outen als in meinem engsten Bezugskreis. Zu der Zeit meines Coming-outs wohnte ich mit zwei Freund*innen zusammen und hätte niemals von „Angesicht zu Angesicht” mit ihnen darüber sprechen können. Für mich war das Internet super wichtig, um diesen ersten Schritt gehen zu können. Dann war die Neuigkeit raus und ich konnte mir überlegen, welche Schritte ich als nächstes gehe. 

Ich kann jede*n verstehen, der*die sich davor scheut sich öffentlich zu outen. Bei mir war die Situation durch einen eh schon öffentlichen Blog noch einmal anders. Es war mir wichtig, meine Leser*innen über meinen richtigen Namen zu informieren. Diese Situation und Voraussetzungen für ein Coming-out ist aber natürlich für jede Person anders.

Für ein (öffentliches) Outing gibt es immer und nie den richtigen Moment und das richtige Alter und nicht alle haben die Kraft überhaupt öffentlich über ihr Queersein zu sprechen … was würdest du denn heute deinem 14-jährigen Ich sagen in der Retrospektive?

„Hab keine Angst, du bist gut so wie du bist. Du bist richtig, so wie du bist. Und du bist liebenswert, so wie du bist.” Das klingt vielleicht ein bisschen kitschig, aber als ich 14 Jahre alt war oder 16 oder auch noch Anfang 20 war meine größte Sorge, dass etwas mit mir falsch sein könnte und dass ich nicht mehr liebenswert bin, wenn andere Menschen herausfinden könnten, was mit mir los ist.

Nach diesem ersten Outing auf deinem Blog ist viel passiert und es sind nun mehr als zwei Jahre vorbei, die du in deinem Buch mit Höhen und Tiefen dieser Zeit sehr detailliert schilderst. Welche Momente waren in der Zeit für dich denn ganz besonders und unvergessen?

Ach, so viele: Als ich zum ersten Mal Testosteron bekam, oder als ich meinen Namen offiziell änderte, sind die größten Momente, die mir einfallen. Auch der Moment, kürzlich, als ich den Brief öffnete mit der Kostenzusage für meine OP war ein ganz besonderer Moment. Es gab aber auch viele kleine schöne Momente. Ich habe tolle Freund*innen gefunden, mir zum ersten Mal die Haare gefärbt, mein erstes Tattoo bekommen. 

Ich habe vielleicht ein Stück weit gelernt, das Leben zum ersten Mal so richtig zu genießen und auszuschöpfen. 

Was viele Menschen, die nicht trans sind, nicht wissen: Nicht nur eine offizielle Namens- und Personenstandsänderung ist durch das sogenannte Transsexuellen-Gesetz (TSG) geregelt. Die Paragraphen um das 1981 eingeführte TSG sehen u.a. auch zwei unabhängige psychologische Gutachten vor, in dem das trans Sein bestätigt werden muss, um dann erst den eigenen Vornamen und Personenstand ändern zu können. Diese Gutachten gehen oft mit vielen Monaten (bis hin zu mindestens zwei Jahren)  Pflichttherapie sowie diskriminierenden Fragen der Therapeut*innen einher. 

Du bist einen anderen, kürzeren und diskrimierungsfreieren Weg gegangen für die Namens- und Personenstandsänderung?

Ja, genau. Ich habe mich letztes Jahr dazu entschieden, meinen Namen nach Paragraph 45b zu ändern. Ich bin diesen Weg gegangen, als der Paragraph noch ganz neu war und gerade erst in Kraft getreten ist. Später wurde es dann deutlich schwieriger für trans Menschen, auf diesem Weg Namen- und Personenstand zu ändern. Ich kann mich noch heute daran erinnern, wie erleichtert ich gewesen bin, als ich einen Personalausweis hatte, auf dem mein richtiger Name stand. Und eine Krankenkassen-Karte. Und eine EC-Karte. Das hat mein Leben so viel leichter gemacht! 

Was völlig klar ist, ist, dass das TSG veraltet und diskriminierend ist und abgeschafft werden sollte. Deshalb freue ich mich sehr über die Initiative und das Engagement von Sven Lehmann (Bündnis 90/Die Grünen), der den Entwurf für das Selbstbestimmungsgesetz mit auf den Weg gebracht hat. Ich habe die erste Anhörung verfolgt und bin gespannt wie es weiter geht. 

Cis Menschen, die Kraft und Ressourcen haben, können auf Xenias Website AllegutenDinge.jetzt gehen und dort alle weiteren Informationen finden – zum Gesetz und dazu, wie sie uns trans Menschen unterstützen können.

Was können Menschen, die nicht trans sind, zusätzlich tun, um Ally zu sein – nicht nur zur Trans Awareness Week?

Zuhören, lernen und offen dafür sein, die eigene Perspektive zu hinterfragen und zu erweitern. Das klingt vielleicht langweilig, ist aber wichtig! Wir brauchen in unserer Gesellschaft mehr Wissen und mehr Bewusstsein für dieses Thema. Deshalb ist meine Empfehlung immer: Lest Bücher von trans Menschen (z.B. Felicia Ewert, Jayrôme C. Robinet, Thomas Page McBee), schaut Serien (Pose, Disclosure, Euphoria, Stadtgeschichten) und folgt auf Twitter/Instagram trans und nicht-binären Menschen.

… Und dein Buch kaufen!

Auch das! Ich freue mich wirklich sehr über das viele tolle Feedback, das ich die letzten drei Monate bekommen habe! Mir schreiben viele junge Menschen, aber auch viele Eltern oder Menschen, die noch unsicher sind, Angst haben oder mit sich hadern. Es ist ein schönes Gefühl, diesen Menschen vielleicht ein bisschen mit meinem Buch helfen zu können. 

Als ich mein Coming-out hatte, glaubte ich, das festgelegt ist, wie ich als trans Mann „nach meiner Transition” aussehen muss – super männlich und muskulös. Mittlerweile habe ich gelernt, dass es da kein „nach der Transition” geben muss. Und dass es ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten gibt, wie ich sein darf, wie ich aussehen darf und welchen Weg ich gehen möchte. Es war mir wichtig, diese Erkenntnis mit möglichst vielen jungen Menschen zu teilen.

Wird „Ich bin Linus” dein einziges Buch bleiben?

Es fühlt sich immer noch komisch an oder seltsam, mich selbst als Autor zu bezeichnen. Das ist eine Rolle, in die ich noch reinwachsen muss. Ich habe aber auf jeden Fall noch Ideen, und auch Lust weiter zu schreiben. Mein größter Wunsch ist, irgendwann ein Kinderbuch zu schreiben. 

Nicht nur mit deinem Buch, sondern vor allem auch mit deinen Social-Media-Kanälen hast du eine riesige Reichweite. Bleibst du, wenn du bei She Said wieder als Buchhändler arbeitest, als (Online-)Aktivist sichtbar und präsent?

Ich weiß gar nicht, ob ich mich selber als Aktivist bezeichnen möchte. Ich werde aber auf gar keinen Fall damit aufhören, mich online zu Themen zu äußern, die mir wichtig sind. Auch meine Arbeit im Buchladen kann ja in Teilen auch aktivistisch sein. Zum Beispiel, in dem ich meine Perspektive in die Buchauswahl und das Veranstaltungsangebot mit einfließen lasse. Im Idealfall wollen wir nicht nur ein Buchladen sein, sondern ein Community Space.

Seit Erscheinen meines Buches habe ich festgestellt, dass Aktivismus ganz unterschiedlich aussehen kann. Ich war zum Beispiel an einer Schule und habe dort über mein Buch gesprochen. Das war eine tolle Erfahrung, weil die Schüler*innen interessiert waren. Ich kann mir vorstellen so etwas in Zukunft noch öfter zu machen. 

Abschließend: welchen Rat kannst du (jungen) trans Menschen mit auf den Weg geben, den du selbst auch gern bekommen hättest?

Sich selbst glauben und sich Hilfe zu suchen. Mein Leben hat sich entscheidend verändert, als ich zum ersten Mal einen trans Mann getroffen habe und gesehen habe, dass dieses Leben möglich ist. 

Lieber Linus, wir vom ganzen Queerlexikon-Team sagen ganz herzlichen Dank für deine Zeit und das tolle Interview mit dir.

Linus Giese ist Autor, Buchhändler und Blogger. Online ist er aktiv unter dem Handle @buzzaldrinsblog – Bild-Copyright: Annette Etges

Durch das Interview führte Daniela; die Fragen sind ein Zusammenschluss des ganzen Queerlexikon Teams gewesen.

Das Buch „Ich bin Linus – Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war” ist als Taschenbuch für 15 Euro, als E-Book für 9,99 Euro in jedem Buchhandel erhältlich sowie als Hörbuch für 9.99 Euro oder auf Streaming-Aboplattformen (z.B. Spotify, Audible) verfügbar.

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