Kummerkastenantwort 850 – wie kann ich mit misgendering umgehen?
Hallo queer-Lexikon team 🙂 ich hoffe, ihr habt momentan nicht zu viel Stress beim Fragen beantworten!
Ich hab ein Problem bei dem ich nicht weiß, ob ihr mir überhaupt helfen könnt, aber ich wollte euch trotzdem mal schreiben. Ich bin ein trans* Junge, bin erst 17, und gerade noch dabei mich zu outen (es ist alles ein bisschen kompliziert). Ich würde wahnsinnig gerne stealth gehen, ich will nicht immer jeder Person, die ich kennen lerne, erklären müssen dass ich ein Junge bin. Dann kommen immer Fragen, die total gemein sind und die ich nicht beantworten will, oder ich werde einfach weiter misgendert, weil ich scheinbar einfach nicht als Junge durchgehe, egal was ich mache. Das macht mich fertig. Ich stelle mich oft schon direkt mit Pronomen vor, und trotzdem bekommen die meisten es einfach nicht auf die Reihe, mich als Jungen anzusprechen. Ich wünschte ich könnte überall als cis Junge durchgehen, aber das funktioniert leider nicht so gut, weil ich kein Testosteron nehme. Selbst wenn ich komplett typisch männliche Kleidung trage, werde ich als Frau angesprochen. Ich verstelle meine Stimme schon, ich mach alles was ich kann, und es funktioniert einfach nicht. Habt ihr Tipps, wie ich mit solchen Situationen umgehen kann?
Danke
Hallo du,
das ist eine echt miese Situation – misgendert werden ist einfach echt Mist. 🙁
Das schwierige ist: Es ist nicht deine Schuld, du machst alles richtig! Es sind die anderen Leute, die sich nicht genug anstrengen und die es echt besser machen sollten. Von daher sind es eigentlich auch vor allem die anderen Leute, die ihr Verhalten ändern müssten, nicht du. In einer perfekten Welt wäre das auch so. Leider müssen wir da in unserer Welt Kompromisse finden.
Hier sind ein paar Ideen, was du tun kannst im Umgang mit solchen Situationen – was davon für dich passt, kannst nur du selbst bestimmen, es gibt kein Richtig oder Falsch:
- hartnäckig bleiben: die sachliche Variante, besonders für Menschen, mit denen du es öfter zu tun hast. Immer, wenn irgendwer falsche Pronomen oder Bezeichnungen verwendet, die Person einfach unterbrechen und korrigieren. Davon wird die andere Person wahrscheinlich irritiert werden, und ja, vielleicht unangenehme Fragen stellen, aber du schuldest niemandem eine Antwort oder Auskunft. „Warum?“-Fragen haben keine Berechtigung. Als Antwort reicht z.B. einfach völlig „weil das meine Pronomen sind“ o.ä. Wenn Leute besonders unhöflich bohren, dann kannst du ihnen immer noch erklären, dass deine Korrekturen keine Einladung zum Nachfragen sind, sondern einfach nur richtig stellen, was die andere Person falsch gemacht hat. Mach der Person klar, dass sie unhöflich ist.
- es mit Humor nehmen: wenn Leute bescheuerte und unangenehme Fragen stellen, dann kannst du bescheuert und absurd antworten. Wenn irgendwer sowas sagen sollte wie „Du siehst aber gar nicht aus wie ein Junge!“, kannst du immer sowas zurückgeben wie „Und du siehst gar nicht aus wie jemand, der so unhöfliche Sachen sagt!“ oder (weniger auf Angriff) „Wusste gar nicht, dass alle Jungen gleich aussehen“ oder so. Wenn Leute unangebrachte und intime Fragen stellen, dann kannst du die auch einfach zurückfragen, ohne sie zu beantworten. Ist vielleicht manchmal angenehmer als die direkte Art, sowohl für dich, als auch für die andere Person.
- es auf der emotionalen Ebene versuchen: Manchmal hilft es auch, Menschen deutlich zu machen, dass es hier nicht um „political correctness“, sondern um deine Gefühle geht. Das ist vor allem im Gespräch mit Menschen sinnvoll, die dir nahe stehen und/oder mit denen du befreundet bist. Sowas wie „Wie würdest du dich denn fühlen, wenn du ständig falsch angesprochen wirst?“ könnte helfen, aber auch einfache Ich-Botschaften, z.B. „es tut mir weh, wenn ich nicht mit ‚er‘ angesprochen werde. Ich fühle mich dann nicht ernst genommen und wahrgenommen.“
- es ignorieren: Vielleicht ist es manchmal auch okay, vor allem bei fremden Leuten auf der Straße oder so, wenn du ihre falschen Pronomen und Anreden einfach ignorierst. Das hat nichts mit Aufgeben zu tun, sondern kann auch einfach Selbstschutz (vor unangenehmen Fragen oder noch mehr Enttäuschung) sein. Du darfst dir dabei immer wieder ins Gedächtnis rufen – du machst nichts falsch, es sind diese Menschen, die grade einen Fehler machen. Sie kennen dich nicht und wissen nicht, wer du wirklich bist, und manchmal ist das auch okay. Du schuldest niemandem deine Identität, und erst recht keine Erklärung dazu.
- dir Unterstützung suchen: Diese Option ist leider nicht immer möglich, kann aber sehr hilfreich sein. Vielleicht gibt es ja in deinem Umfeld ein paar Leute, die auf deiner Seite sind. Du kannst mit ihnen darüber reden, dass Misgendering für dich belastend ist und sie darum bitten, mit dir oder für dich andere zu korrigieren, wenn die es falsch machen. So bleibt es nicht immer an dir hängen und du kannst auch mal verschnaufen. Außerdem fühlt es sich einfach gut an zu wissen, dass manche Leute einfach auf deiner Seite sind. Dazu kann es übrigens auch hilfreich sein, mit anderen Leuten zu reden, die selbst ähnliche Erfahrungen machen und z.B. auch trans sind – denen musst du nicht erst erklären, warum Misgendering wehtut. Vielleicht findest du ja eine (zur Zeit wohl eher digitale) Jugendgruppe in deiner Umgebung, oder schau doch mal in unserem Regenbogenchat oder in anderen virtuellen queeren Gruppen vorbei, wenn du magst.
Ich hoffe, bei diesen Tipps ist etwas hilfreiches für dich dabei. Für mich persönlich nutze ich meist irgendeine Mischung aus all diesen Strategien, je nachdem, mit wem ich rede und wonach mir gerade ist. Außerdem möchte ich nochmal betonen: Du machst alles richtig. Es sind die anderen Leute, die im Unrecht sind und die sich mehr anstrengen sollten. Und es ist vollkommen okay, über diese Situation und diese Menschen frustriert zu sein.
Ich wünsche dir alles Gute und hoffe, du findest einen guten Weg für dich!
Liebe Grüße,
Balthazar