Koalitionsvereinbarung 2021 – ein neues Kapitel für queere Menschen!


Freddy Wenner hat die letzte Legislatur im Bundestag in der wissenschaftlichen Mitarbeit für Doris Achelwilm queerpolitisch hautnah miterlebt und ist seit rund 20 Jahren in queeren Kontexten aktiv.

„Heute ist ein historischer Tag“ sagte Cornelia Kost im Twitter-Space #KoaVereinbarungsPlausch am Abend des 24. November. Und damit hat sie, wie ich finde, recht. Nach den Bundestagswahlen im September haben SPD, Grüne und FDP an jenem Mittwoch den ausverhandelten Koalitionsvertrag vorgestellt. Er liegt nun in den drei Parteien zur Prüfung und Abstimmung vor.

Dieser historische Moment hat mehrere Dimensionen, schauen wir einfach mal rein:

  • Queerpolitik ist nicht mehr nur eine abgekapselte Insel in den Politikfeldern: Queerpolitik zieht sich durch ganz viele Bereiche, von Familienpolitik und Abstammungsrecht bis zur Verbesserung der Asylverfahren und eine queerkompetente Unterstützung und Bearbeitung dort.
  • Erstmals gibt es ein großes queerpolitisches Maßnahmenpaket: Die „queerpolitische Insel“ ist endlich auch im queeren Querschnitt angekommen. Seit der Einführung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft 2001 hat sich im queeren Bereich fast nichts mehr getan, obwohl es viel zu tun gegeben hätte. Das lag vor allem an der Union (CDU+CSU), die das entweder im Bundesrat oder während der 16 Jahre von Merkels Kanzlerinnenschaft in der Regierung blockierte. Die neue Regierung verspricht nun sehr konkret, viele Benachteiligungen und Gesetzeslücken abzubauen.
  • Es sind mehrere Big Points dabei, für die queere Community seit Jahren und Jahrzehnten kämpft:
    • Mehr Schutz für inter* Kinder: Das noch neue, aber 2021 nach 10 Jahren Vorlauf nur halbherzig umgesetzte Schutzgesetz soll ausgebaut werden – hoffentlich unabhängig von medizinischen Diagnosen. #IGMStop
    • Fremdbestimmung im Personenstandsregister wird abgebaut: Vornamensänderung und die Korrektur des Geschlechtseintrags sollen zukünftig einfach und über das Standesamt möglich werden. Bislang mussten ärztliche Bescheinigungen vorgelegt oder in einem Gerichtsverfahren zwei „Gutachten“ bezahlt und vorgelegt werden. #TSGAbschaffen / #SelbstbestimmungJetzt
    • Verbesserungen für Regenbogenfamilien: Grundrechte von Kids in Regenbogenfamilien und ihren Eltern werden demnächst gewahrt und die Verhinderungsstrategie gegen queere Familien über derartige Rechtsunsicherheit weiter abgebaut. Zum Beispiel soll es nicht mehr notwendig sein, dass Zwei-Mütter-Familien ihre eigenen Kinder adoptieren müssen. Außerdem sollen mehr als zwei Erwachsene sorgeberechtigt für ein Kind sein können. #nodoption
    • Besserer Zugang zu medizinischer Versorgung: Trans-bezogene Behandlungen soll endlich gesetzlich garantiert von den Krankenkassen finanziert werden. Im besten Fall könnte das die individuellen Anträge auf Kostenübernahme mit den ganzen Vorgaben zur Offenlegung persönlichster Informationen „für Prüfzwecke“ beenden. Auch die ganze Gerichtsstreitigkeiten für Epilationen könnten enden.
    • Erste Maßnahmen gegen Gewalt: Gewalt gegen Queers wird stärker sanktioniert oder überhaupt erst ein Straftatbestand. Dazu wird auch die Erfassung in der Kriminalstatistik verbessert – wobei der Anteil an nicht-angezeigten Gewalterfahrungen bei bislang rund 90% liegen dürfte. Gewaltberatung und Nachsorge, sowie Prävention könnten im Aktionsplan eine Rolle spielen, dazu gleich mehr.
    • Diskriminierungsverbot im Grundgesetz ergänzen: Der #Artikel3 des Grundgesetzes soll in einer Art und Weise ergänzt werden, dass LSBT_IQAP* unter den Diskriminierungsschutz fallen, in Bezug auf trans*, inter* und nicht-binäre Menschen auch über die in der Rechtsprechung bislang überwiegend cis-binär interpretierten Begriffs „Geschlecht“ hinaus.
  • Es geht nicht mehr nur um Gesetzgebung: Neben den Gesetzesänderungen geht die wohl zukünftige Bundesregierung auch in die Verantwortung bei den flankierenden Maßnahmen:
    • Ein bundesweiter Aktionsplan soll kommen, um systematisch auf strukturelle Verbesserungen in Behörden, Ämtern, Schulen, in der Wirtschaft – sprich im gesamten Alltag hinzuwirken. Das bedeutet auch endlich eine Kooperation und Austausch von Bundes- und Länderebene. Als Anfangsfinanzierung für Maßnahmen stehen 70 Mio. Euro im Raum (= nicht im Koalitionsvertrag). Das ist ein Vielfaches an dem, was Länder und Kommunen bislang für ihre Aktionspläne und die lokalen Strukturen investieren wollten.
    • Die nächste Regierung will einen Entschädigungsfonds einrichten für Betroffene von fremdbestimmten Operationen (trans*/inter*) und Zwangsscheidungen (Vor einer Korrektur des Geschlechtseintrags wurde bis 2009 die Scheidung verlangt, weil es keine gleichgeschlechtlichen Ehen geben sollte) . Hier übernimmt der Staat also die Verantwortung für Grund- und Menschenrechtsverletzungen, die er selbst gesetzlich ausgeübt oder im medizinischen System zugelassen hatte.

Anders als ein Partei- oder Wahlprogramm ist die Koalitionsvereinbarung eine ziemlich verbindliche Verabredung zwischen den Koalitions-Fraktionen. Hier halten die Koalitionspartnerin*nen sowohl einen Rahmen für die gemeinsamen Entscheidungen fest, als auch mittlerweile einen umfangreichen Maßnahmenkatalog. Dort hinein kommt nur, was die Parteien auch wirklich fest versprechen wollen und das allermeiste, was konkret in Koalitionsverträgen steht, wird dann auch umgesetzt. Bei einem Teil der Maßnahmen hält die Vereinbarung aber auch erstmal nur den Grundkonsens fest, etwas Bestimmtes zu erreichen, einzuführen oder umzusetzen. Das muss dann in der vierjährigen Legislatur zwischen den drei Fraktionen konkretisiert und ausgearbeitet werden.

Es macht einen großen Unterschied, ob in einem Satz steht „wir wollen…“ oder „wir werden…“ – nur letzteres ist eine feste Zusage. Alles, was „gewollt“ ist, gilt erstmal nur unter Vorbehalt vereinbart – meist ist das der Vorbehalt der Finanzierbarkeit. Manchmal versteckt sich auch in einem Adjektiv wie „grundsätzlich“ ein inhaltlicher Vorbehalt, zum Beispiel in dem Satz „Wir werden das [TSG] abschaffen und durch ein Selbstbestimmungsgesetz ersetzen. Dazu gehören ein Verfahren beim Standesamt, das Änderungen des Geschlechtseintrags im Personenstand grundsätzlich per Selbstauskunft möglich macht (…)“ (Zeilen 4010-4012) Das Adjektiv könnte aber auch einfach nur einen Grundsatz, eine Allgemeingültigkeit, betonen. Wir werden sehen.

So eine Koalitionsvereinbarung bildet noch lange nicht das vollständige Arbeitsprogramm für die kommenden vier Jahre ab, sondern nur die bereits am Anfang feststehenden Einigungen. Es kommen weitere Willensbildungen, die ganzen ungeplanten Themen und Entwicklungen, sowie ein immenses Alltagsgeschäft an Updates und Fortschreibungen bereits bestehender Regelungen und Maßnahmen dazu.

Ich finde es unfassbar ungewohnt, so viele Zusagen und konkrete Maßnahmen in einem Koalitionspapier zu sehen. Dieser Koalitionsvertrag setzt damit neue Maßstäbe  fürs Regieren und normalisiert, dass LSBTIAP+-Themen in allen möglichen Politikfeldern auftauchen können und ihre Lebensrealität mit auf den Tisch gehört, wenn regiert und gesetzgeberisch gearbeitet wird.

Wie werden sich diese Änderungen auf queere Menschen und die queere Community auswirken?

An vielen Stellen wird queeres Leben konkret verbessert. Dazu gehört zum Beispiel auch Familiengründung mit Mehrelternschaft über das „kleine Sorgerecht“. Bis zu zwei weitere Personen können neben den rechtlich zugeordneten Eltern dieses Sorgerecht ausüben. Oder auch die zukünftigen Verantwortungspartnerschaften, die zusätzlich zu bzw. unabhängig von einer Ehe möglich sein sollen. Sie werden auch die Entscheidungsmöglichkeiten von hetero cis Menschen erweitern. Einen derartigen Einfluss hatte beispielsweise der französische „Pacte civile de solidarité“ (eine Art „Eingetragene Lebenspartnerschaft für Alle“), der sehr schnell auch von vielen hetero Paaren genutzt wurde. Fast ohne queere Marker steckt all das in den ersten Absätzen des Abschnitts „Familienrecht“ (ab Zeile 3374). Das sind Schritte, der selbst in den queeren Communities nicht einmal sehr optimistische Menschen erwartet hätten.

Queere Menschen werden also von vielen, oft bislang für sie lebenslang selbstverständlichen Diskriminierungen entlastet. Das ständige Aufklären dazu im eigenen Alltag und die vielen Workarounds wegen der diskriminierenden und verhindernden Gesetzeslage werden bis 2025 zunehmend Geschichte.

Im queerpolitischen Aktivismus und in der Interessenvertretung geht es hingegen nun plötzlich bei den meisten Themen nicht mehr darum, für den Handlungsbedarf an sich zu sensibilisieren. In den nächsten vier Jahren kommen auf die Aktiven stattdessen jede Menge parlamentarische Prozesse zu, die sie kritisch und konstruktiv begleiten müssen. Sie werden sicherlich auch immer wieder nachhaken, falls sich Zusagen aus dem Koalitionsvertrag verzögern oder noch gar nicht in Angriff genommen wurden.

Es ist wahrscheinlich, dass sich in Reaktion auf diesen Koalitionsvertrag die transfeindlichen Kampagnen aus einigen feministischen und vielen rechten Ecken noch einmal verstärken werden. Umso wichtiger die Schutzmaßnahmen gegen Hassgewalt und Hetze, sowie die korrekten Ausweispapiere, um bei Bedarf und auf Wunsch den Rechtsstaat auch ohne die trans*/inter*feindliche Zumutung und Belastung in Anspruch nehmen zu können.

Fazit: Auch wenn der aktuelle Koalitionsvertrag aus queerer Position heraus als der bisher Beste qualifiziert, so tut er das eben auch mangels ernsthafter Konkurrenz. Bisher kamen queere Themen in den Koalitionsverträgen nur sehr kurz und oft als schwammige Formulierung vor. Außerdem war die „Ampel“-Koalition nach der Wahl rechnerisch die einzige Option für eine Regierung ohne die CDU/CSU, die auch noch weitere Jahre und Jahrzehnte gebremst, ausgesessen und aktiv das Ende der Entrechtung queerer Menschen verhindert hätte. Das neue Kapitel für queere Menschen, das nun aufgeschlagen wird, hat viele Seiten.

Freddy Mo Wenner | twitter.com/EinfachFreddy | vielfaltive.de

 

 

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