Kummerkastenantwort 2.142: Ich habe das Gefühl mit meinem Coming Out in etwas reingerannt zu sein.

Hallo ihr,
ich habe seit meinem Outing als nicht-binär trans immer mehr das Gefühl, verrückt geworden zu sein. Bei anderen trans Personen würde ich nie so denken, doch bei mir habe ich die Angst, in “etwas reingerannt zu sein”. Ich möchte mir gerne mein Transsein ausreden, da Geschlecht ja nur ein Konstrukt ist und ich keinerlei Sicherheit habe, wirklich nicht-binär zu sein. Allgemein würde ich mich nicht so viel mit meinem Geschlecht befassen wenn ich nicht in der heutigen Zeit geboren wäre und nicht den Zugang zu diesen Informationen hätte.

Wie kann ich mit dieser Unsicherheit umgehen?

Eine davon unabhängige Frage: Hatten früher nicht genauso viele Menschen Geschlechtsdysphorie wie heute? Ich weiß nicht, wie ich vor 100 Jahren mit meiner Dysphorie überlebt haben könnte.

Alles liebe,
Noa

Hi Noa!

Ja, Geschlecht ist ein Konstrukt. Aber Geld zum Beispiel auch. Beides existiert trotzdem und hat sehr reale Einflüsse auf die Welt. 😉

Aber Spaß beiseite, ich verstehe schon, was du meinst. Es ist oft einfacherer anderen ihr Geschlecht zu glauben und zu gönnen. Bei uns selbst kriegen wir jeden kleinsten Zweifel mit und legen oft die Messlatte viel, viel höher, als bei anderen. Da schwingt auch schnell das queere Imposter-Syndrom mit.

Ob du in einer anderen Zeit ähnliche Gedanken gehabt hättest, kann man natürlich nicht mit Sicherheit sagen. Aber trans und nicht-binäre Menschen gab es in verschiedenen Formen schon immer und in den verschiedensten Kulturen. Wir sind nicht so eine Modeerscheinung, wie gerne behauptet wird. Es ist also gut möglich, dass du auch früher schon genauso trans gewesen wärst, wie heute.

Der Umgang mit der Unsicherheit ist leider nicht leicht. Mir hilft es zum Teil zu überlegen, wie ich über die gleiche Situation bei jemand anderem denken würde. Da ist dann ganz schnell die Erkenntnis, dass das schon richtig so ist. Sich selbst dann aber das gleiche Maß an Rückhalt gönnen, braucht Übung und Arbeit. Du bist nicht-binär genug. Du kennst dich am besten und du darfst sein, wie es dir gut tut. Wirklich. Du bist genug. Auch, wenn du dir das nicht immer glauben kannst.

Zu deiner zweiten Frage:
Ich bin mir nicht sicher, ob man überhaupt beantworten kann, ob es früher genauso viele und die gleichen Probleme mit Dysphorie gab. Vieles davon ist sehr kulturabhängig und viel zu viel wurde nicht überliefert oder nachträglich zerstört. Aber Menschen haben auch früher schon Lösungen gefunden.
Und grade, wenn du vor 100 Jahren ansprichst: in Deutschland gab es in den 1920ern bereits erste geschlechtsangleichende OPs (Stichwort Magnus Hirschfelds Institut der Sexualwissenschaften). Dieses medizinische Wissen wurde nur leider in den folgenden Jahren zerstört.

Vor allem in Kulturen, in denen trans oder nicht-binäre Menschen nicht stigmatisiert waren, sondern zum Teil sogar spirituell wichtige Rollen inne hatten, war zumindest die soziale Transition ein möglicher weg, auch da, wo medizinische Transition schwierig oder nicht möglich war.

Ich hoffe, das hilft dir etwas!

Liebe Grüße
Lir

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