Kummerkastenantwort 2.277: Ich habe starke Dysphorie

Triggerwarnung: Gedanken an selbstverletzendes Verhalten, Stimmungstief, Dysphorie etc.

Hallo ihr Lieben,
ich habe lange überlegt ob ich euch schreiben soll, aber jetzt halte ich es nicht mehr aus. Ich bin afab und habe extreme Dysphorie gegen meine Brüste. Sie sind immer im Weg, sie stören, der BH ist eng und es ist heiß darunter. Manchmal kriege ich unkontrollierte Heulkrämpfe wenn ich sie ausversehen berühre oder an sie denke.
Ich wünschte ich könnte sie einfach mit dem Küchenmesser abschneiden.
Seit etwa einer Woche tuen sie einfach nur noch weh, sind druckempfindlich und schwer, aber das ist anscheinen normal in der Pubertät.
Ich habe mir einen Binder gekauft, nur sieht es total bescheuert aus wenn ich den trage, einfach zusammengequetscht und komisch.
Ich will einfach, dass sie weggehen.
Meine Mutter würde einen Eingriff wie eine Mastektomie niemals erlauben, aber ich schaffe es nicht, noch fünf Jahre zu warten.
Es geht sogar soweit, dass ich mir Brustkrebs beinahe wünsche, damit sie wegkommen. Ich weiß, das ist respektlos gegenüber wirklich Krebskranken, und ich schäme mich für diese Gedanken.
Aber ich würde alles tun, damit sie wegkommen.
Habt ihr vielleicht einen Tipp, wie ich es schaffen könnte, entweder irgendwie die OP zu kriegen oder noch fünf Jahre durchzuhalten, ohne mir irgendwas zu tun?
Tut mir leid für die vielleicht seltsam wirkende Nachricht, es tut gut, dass ich mich mal ausschreiben konnte.
Liebe Grüße und vielen Dank

Hey Du!

Bitte entschuldige die lange Wartezeit auf deine Antwort.

Das klingt, als wäre bei dir momentan eine Menge los und ich kann mir vorstellen, dass das sehr anstrengend ist. Dysphorie ist ein furchtbares Gefühl und ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man daraus gerade keinen Ausweg sehen kann. Ich hab ein bisschen nachgedacht, und habe ein paar Vorschläge, die du ausprobieren kannst, damit es dir wenigstens ein bisschen besser geht. Vielleicht ist ja etwas dabei, das dir hilft!

Erstmal zum Binden und Brustdysphorie.
Als ich mit Binding angefangen habe, hatte ich auch kurz das Gefühl, dass es komisch aussieht, und dass der sich sehr deutlich unter der Kleidung abzeichnen müsste. Was mir da geholfen hat war zum einen, den Binder erstmal für ein bisschen Zeit daheim zu tragen um mich daran zu gewöhnen, wie es aussieht – es ist nun mal anders als ohne Binder, und dieser ungewohnte Anblick kann das Gehirn auch schonmal verwirren.
Was mir auch geholfen hat, war, verschiedene Kleidung auszuprobieren, und zu schauen, worunter sich der Binder am wenigsten abzeichnet – meiner Erfahrung nach sind das T-Shirts aus dichtem Stoff, am besten mit großflächigen Prints auf der Vorderseite, und Hoodies bzw. Pullover.

Es kann natürlich auch sein, dass dein Binder nicht gut passt, und du deswegen das Gefühl hast, dass es komisch aussieht. Hast du vielleicht die Möglichkeit, Binder von verschiedenen Marken und in verschiedenen Größen auszuprobieren? Bei einigen Online-Stores kann man bestellen und zurückschicken, wenn der Binder nicht passt.
Kennst du schon unsere Binder-Broschüre?

Dasselbe gilt für BHs. So, wie du deinen BH beschreibst, klingt es, als würde der auch nicht sehr gut passen. Ein BH sollte einem nicht die Luft abschnüren! Die richtige BH-Größe zu finden, kann ziemlich schwierig sein, vor allem, wenn man sich wegen Dysphorie nicht wirklich damit auseinander setzen will. Kannst du da eventuell jemanden um Hilfe bitten, der*die sich bewusst ist, dass das ganze Brust-Thema für dich ohnehin schon unangenehm ist?

So. Jetzt zu der Situation mit deiner Mutter:

Vielleicht lohnt es sich da, noch einmal das Gespräch zu suchen, wenn du das gefahrlos tun kannst?
Für Eltern von trans* Kindern gibt es mittlerweile auch einige Ressourcen im Netz, zum Beispiel auf beim Trans-Kinder-Netz. Manchen Eltern hilft es, sich mit anderen Eltern auszutauschen, um zu verstehen, wie wichtig das Thema für ihre Kinder ist und wie sie ihre Kinder besser dabei unterstützen können.

Es ist in Deutschland sehr schwer, als jugendliche Person medizinische Transitions-Schritte zu beginnen. Ich weiß nicht genau, wie alt du bist, aber so wie du es beschreibst, bist du noch im Wachstum. Das macht eine Mastektomie (ganz abgesehen von den rechtlichen Hürden) auch aus medizinischer Sicht sehr schwierig.
Was für dich vielleicht eher in Frage käme (und vielleicht für deine Mutter auch nicht ganz so „drastisch“ klingt, ist eine Therapie mit sog. Pubertätsblockern, die die Entwicklung in die Richtung, die dir nicht zusagt, erstmal aufzuhalten oder zu verlangsamen. Später (noch vor der Volljährigkeit) wäre eventuell auch eine Hormonersatztherapie möglich, also eine Behandlung mit Testosteron,, die dann eine Entwicklung analog zur cis-männlichen Pubertät auslöst, also Bartwuchs, Stimmbruch etc. Dabei verschiebt sich bei manchen Menschen auch das Körperfett, wodurch die Brüste ein wenig kleiner wirken. Weg gehen sie dadurch aber nicht.

Für all das brauchst du allerdings nach aktuellem Stand auf jeden Fall therapeutische oder psychiatrische Betreuung, am besten von einer*m Kinder- und Jugendpsychotherapeut*in, welche*r sich mit trans Themen auskennt. Im Netz gibt es mehere Listen mit Behandler*innen, vielleicht findest du da in deiner Region eine Person, an die du dich wenden kannst.
Vielleicht kann eine zukünftige Therapieperson auch noch einmal mit deiner Mutter reden oder ein moderiertes Gespräch zwischen dir und deiner Mutter leiten, in dem du ihr die Wichtigkeit deiner Transition nochmal deutlich machst. Außerdem ist bei dir ja momentan sehr viel los psychisch, da kann eine feste, außenstehende Ansprechperson sehr gut tun.

Und jetzt noch ein bisschen zu Dysphorie generell:

Was außerdem helfen kann, um die Dysphorie zumindest ein bisschen auszublenden, ist, an anderen Stellen Raum für Euphorie zu schaffen.
Gibt es vielleicht etwas, bei dem du dich sehr bestätigt in deinem Geschlecht fühlst? Das kann alles mögliche sein, bei mir ist es zum Beispiel meine Frisur, mit der ich mich sehr männlich und wohl fühle. Auch meinen Kleiderschrank auszumisten, Herrenjeans kaufen und alle Klamotten, die meine Brust betonen, wegzuwerfen, hat sich für mich sehr gut angefühlt. Du könntest dich außerdem mal ins Thema Packing einlesen. Vielleicht hilft das, deine Aufmerksamkeit ein wenig von deinen Brüsten abzulenken. Schaumeinlagen, die in der Hose eine kleine „Beule“ produzieren, gibt es teilweise auch schon in sehr kleinen Größen.

Und zuletzt bist du natürlich herzlich eingeladen, mal bei uns im Regenbogenchat vorbei zu schauen! Vielleicht kannst du dich da mit Gleichaltrigen über diese (und natürlich auch andere) Themen austauschen und fühlst dich dann nicht mehr so allein damit.

Bitte pass auf dich auf! Ich weiß, dass das manchmal ganz schön schwer ist, aber versuch unbedingt, dir nicht selbst weh zu tun!

Liebe Grüße und alles Gute,
Elias

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