Wie das Queer Lexikon das Licht der Welt erblickte
2022 wird das Queer Lexikon schon 10 Jahre alt – Zeit für einen Blick zurück und einen vorsichtigen Blick nach vorne. Unsere Gründerinnen Xenia und Annika erzählen abwechselnd davon, wie das Queer Lexikon entstanden ist, was sich seitdem verändert hat und wie es weitergehen wird.
Annika: Es war 2012. Ich war vor Kurzem zum Studieren von zu Hause ausgezogen. Vom Land in die Stadt und in eine Umgebung, in der mich quasi niemand kannte. Das nahm ich – wie es bis heute viele queere Menschen tun – zum Anlass, mich endlich zu outen. Ich erzählte neuen Freund*innen davon, dass ich nicht hetero bin, und besuchte das erste Mal eine queere Gruppe. Doch da war etwas, was auch diese mir nicht geben konnte: Antworten auf die vielen, vielen Fragen zum Queer-Sein und der queeren Community, die ich so hatte.
Ich wusste zum Beispiel, dass es trans Personen gab – aber nicht, wie ich respektvoll mit ihnen und über sie reden konnte. Ich wusste, dass es die AIDS-Krise gab, aber nicht, was sie eigentlich für die queere Community bedeutete. Ich hatte eine vage Ahnung davon, dass es neben ‘schwul’, ‘lesbisch’ und ‘bisexuell’ vermutlich noch einige weitere Begriffe für Sexualität und Beziehungen geben musste, kannte sie aber nicht.
Als der Bücherwurm, der ich schon immer gewesen war, kam ich deswegen auf die Idee, Antworten auf meine Fragen in der Universitätsbibliothek zu suchen. Tatsächlich verbrachte ich über Monate hinweg meine Wochenenden dort und wälzte alte Psychologie-Lehrbücher, Anatomie-Atlanten und alles, was ich in die Finger bekommen konnte, was mit Sexualität und Geschlecht zu tun hatte. Ich hatte natürlich auch im Internet recherchiert – aber besonders auf Deutsch kaum etwas gefunden. Wikipedia ist und war keine besonders queerfreundliche Seite, und durch den Anspruch ‘objektiv’ und ‘neutral’ zu sein, wurden die Informationen dort auch nicht der emotionalen Bedeutung gerecht, die sie eigentlich haben. Wenn eine Person wissen will: "Ist es normal, dass ich mich so fühle?", dann braucht eine Antwort mehr als Fakten – und das fand sich auf Wikipedia nicht.
Blätter, die eine neue Welt bedeuteten
Annika: Mir wurde auch schnell klar: Diese Fragen stelle ich mir doch nicht alleine! Es musste viele (vor allem junge) Menschen geben, die auch nicht wussten, wie sie ein passendes Label für sich finden konnten. Die auch gerne mehr über die queere Community erfahren hätten oder die Ängste und Zweifel hatten. So kam ich auf die Idee, diese Informationen nicht einfach für mich selbst zu sammeln, sondern sie zu systematisieren, zusammenzufassen und sie im Internet zu veröffentlichen. Wie gut, dass ich eine Person hatte, die sich mit diesem Internet gut auskannte…
Xenia: Als Annika also 2012 mal wieder bei ihrer Mutter zu Besuch war, habe ich sie dort besucht und Computerdinge getan. Auch ich wusste, dass es ein paar mehr Worte geben musste, als ich bisher kannte, hatte aber keine so tolle Bibliothek zur Verfügung. Ich war damals aber gelegentlich auf tumblr und etwas neidisch, dass und wie Menschen dort ihre Identitäten erkunden und in lauter tollen englischen Begriffe ausdrücken konnten. Während ich also inhaltlich nicht groß was beitragen konnte, konnte ich Annika Werkzeuge an die Hand geben, aktiv zu werden.
Alles fing mit einer eigenen Wiki an. Keine Rechtsform, kein Gedöns, einfach nur kleiner Server, Wiki, Domain dazu und dann ging’s los. Begriffe in verschiedenen Kategorien verständlich erklären, Quellen hinzufügen, und das Ganze auch mit ein wenig emotionalem Gewicht, das sich in einem wissenschaftlichen Glossar nicht finden würde.
Zugegeben, da war für mich viel Eigennutz drin: Ich merkte, dass ich da deutlich weniger wusste, als ich gerne würde. Genauso wie ich merkte, dass Annika wohl einen halben Universitätsbestand an Fachliteratur gegessen hatte.
Annika: Von 2012 bis 2015 war das das Queer Lexikon: eine Art queeres Wikipedia mit Informationen aus alten Psychologie-Büchern. Das bedeutet auch: Die Informationen, die wir zur Verfügung hatten, waren veraltet, verwendeten pathologisierende und stigmatisierende Sprache und hatten mit aktuellen Diskursen rund um Queerness nichts zu tun. Stattdessen hatten wir Artikel zu Begriffen wie "Urning" oder "Autosexualismus".
Xenia: Während Annika unbegeistert war, weil Dinge veraltet waren, waren sie den ersten Menschen aber auch zu modern, progressiv und queer. So angelten wir uns die ersten "Fans" unter Maskulinisten und falsch abbiegenden Feminist*innen, die wutenbrannt Blogbeiträge schrieben, was wir für einen Unfug tun würden.
Create ALL the services!
Annika: 2015 änderte sich dann ganz schön viel. Wir nahmen 3 neue Menschen ins Team auf. Und wir hatten ein neues Ziel: Videos. Wir riefen den Video-Podcast Buchstabensuppe ins Leben. Monatlich wollten wir ein animiertes Video veröffentlichen, z.B. zu Intergeschlechtlichkeit, Rape Culture oder Antifeminismus. Den monatlichen Rhythmus haben allerdings wir nicht besonders lange durchgehalten und unsere aktuellste Folge ist seit zwei Jahren in Produktion. Ups.
Xenia: Mit den neuen Menschen im Team kam dann aber auch neue Technik. Die Website war nun nicht länger ein Wiki – wir wechselten zu WordPress, was uns die Möglichkeit gab, verschiedenere Arten von Inhalten (wie Video-Podcasts und Blogbeiträge) zusätzlich zu Definitionen anzubieten. Gleichzeitig wuchs das Team immer weiter.
Annika: 2018 bekamen wir über unser anonymes Feedback-Formular eine Frage eines queeren Jugendlichen zum Thema Coming Out. Da wir bis dahin keine Möglichkeit hatten, auf solche Nachrichten zu antworten, wurde so der Kummerkasten geboren. Wir bekamen immer mehr anonyme Nachrichten und Fragen zu Labeln, Coming Out, Selbstfindung etc. In den ersten 2 Jahren kamen so 300 Antworten zustande, seitdem etwa 2’000 weitere. Gerade seit Beginn der Corona-Pandemie bekommen wir viele Fragen und kommen manchmal mit dem Beantworten kaum hinterher.
Xenia: Da es uns offenbar nicht genug war, unseren schon bestehenden Zeitpläne für Buchstabensuppe-Videos nicht einzuhalten, haben wir, auch 2018, noch eine weitere Videoreihe begonnen: Queergefragt. Da setzen wir junge queere Menschen auf eine Couch und lassen sie von ihrem Coming Out und anderen Erfahrungen berichten.
Annika: Zusätzlich zu Twitter, wo wir seit 2015 aktiv sind, haben wir uns 2018 dann auch eine Präsenz auf Instagram eingerichtet. Und wir haben uns erinnert, dass WordPress eigentlich ein System ist, um Blogs zu schreiben und daher unseren Blog begonnen. Seit 2019 gibt es manche unserer Inhalte auch gedruckt: seitdem veröffentlichen wir nämlich Broschüren z.B zu Bindern, Safer Sex, Tucking und Labeln.
Xenia: Nachdem wir lange als Initiative ohne sowas wie eine offizielle Rechtsform gearbeitet hatten, kamen wir zeitweise als Projekt innerhalb von lambda Baden-Württemberg unter. 2019 dann haben wir uns als eigenen gemeinnützigen Verein gegründet.
Annika: Schon vor Beginn der Pandemie war uns bewusst, wie belastend vor allem Feiertage (aber auch grundsätzlich lange Zeit in Isolation mit nur Familienmitgliedern) für queere Jugenliche sein können. 2019 boten wir daher über die Weihnachtsfeiertage einen Support-Chat an, auf dem junge queere Menschen uns über Messenger erreichen konnten. Mit Beginn der Pandemie starteten wir das Projekt nochmals, merkten aber bald, dass ein Austausch für Jugendliche untereinander noch besser wäre – und riefen den Regenbogenchat ins Leben.
Zeit zu feiern – und noch besser zu werden
Xenia: Aktuell ist die neuste Entwicklung für uns, dass wir versuchen, professioneller zu werden. 2021 hatten wir das erste Mal eine*n Praktikant*in und seit Anfang 2022 arbeitet Annika fest angestellt für uns als Geschäftsführerin. Das hätten wir uns 2012 niemals träumen lassen, dass das möglich ist!
Annika: Seit wir diese kleine Webseite gestartet haben, hat sich also viel getan. Von einem reinen Wissens-Angebot, von einem Lexikon, haben wir uns weiterentwickelt zu einem viel umfangreicheren Projekt. Wir möchten vor allem jüngere queere Menschen unterstützen und bieten dafür bedarfsgerechte Angebote wie den Kummerkasten, die Broschüren oder den Regenbogenchat. Für dieses Jubiläumsjahr planen wir auch, Feedback von unserer Community einzuholen und unsere Angebote dementsprechend weiterzuentwickeln.
Xenia: Es bleibt also spannend. Aber die 10 Jahre, die hinter uns liegen, dürfen auch erstmal ordentlich gefeiert werden. Für Mai planen wir eine Reihe von Online-Lesungen. Je nach Pandemie-Lage könnt ihr einige von uns im Sommer auf dem ein oder anderen CSD treffen. Für den Herbst haben wir etwas geplant, was wir noch nie gemacht haben: Wir wollen ein eintägiges Online-Barcamp veranstalten, in dem (junge) queere Menschen sich austauschen und voneinander lernen können. Und hey – wer weiß, was unserem inzwischen 20-köpfigen Team noch so in den Sinn kommt.