Ich bin trans* und werte mich selbst ab – was kann ich tun?
René_ Rain Hornstein wünscht sich das nicht-binäre Pronomen em (im Genitiv ems) und Sternchenformen für sich (z.B. Autor*in). Hornstein hat Psychologie studiert und die Abschlussarbeit über Trans*-Verbündetenschaft geschrieben. Derzeit forscht Hornstein im Rahmen eines Dissertationsprojektes zu internalisierter Trans*-Unterdrückung. Mehr Infos finden sich unter www.rhornstein.de
Ich bin trans* und merke, dass ich mich manchmal dafür abwerte, dass ich trans* bin. Was kann ich jetzt dagegen tun? Im ersten Text habe ich erläutert, wie trans* Menschen von der Gesellschaft abgewertet werden und sich in Folge dessen auch selbst abwerten. In diesem zweiten Text werde ich darstellen, was ich als trans* Person tun kann, wenn ich merke, dass ich mich selbst abwerte. Im dritten Text [verlinken] werde ich Handlungsmöglichkeiten von cis Menschen vorschlagen, die solidarisch etwas dagegen tun wollen.
Eine Giftkunde der verinnerlichten Trans*-Abwertung entwickeln
Die Grundlage für den konstruktiven Umgang mit der Selbstabwertung von trans* Menschen ist ein Wissen über die Abwertung von trans* Menschen im Allgemeinen. Diese hat verschiedene Namen, zum Beispiel Trans*-Feindlichkeit, Cissexismus oder Trans*-Unterdrückung. . Die Abwertung und Unterdrückung von trans* Menschen ist nicht zufällig, sondern folgt einer eigenen Logik. Diese Logik lässt sich herausfinden, wie eine Wissenschaft. Darum verwende ich das Bild der Giftkunde. Ich kann etwas über das Gift der Trans*-Unterdrückung lernen und verstehen, wie dieses Gift funktioniert. Ich muss mich also mit der Giftkunde der Trans*-Unterdrückung vertraut machen.
Wenn ich als trans* Mensch mit anderen trans* Menschen zusammenkomme und über meine Unterdrückungserfahrungen rede, dann finde ich schnell heraus, dass wir manchmal ähnliche Dinge erfahren. Denn unsere Erfahrungen basieren auf Mustern der Unterdrückung, die ich lernen und verstehen kann. Und das gibt mir die Macht, mit diesen Mustern zu arbeiten. Trans*-Unterdrückung wird benennbar und damit handhabbar.
Benennen, dass ich mich gerade selbst abwerte
Die Forscherin Brené Brown hat 2007 eine Theorie über den guten Umgang mit Scham entwickelt, die vier Schritte enthält. Der erste Schritt ist zu benennen, dass ich mich gerade schäme. Ich muss es also wahrnehmen und dann einordnen können. Sie gibt das Beispiel einer Bekannten, die vor sich hinmurmelt „Schmerz, Schmerz, Schmerz“, wenn sie sich schämt und schlecht fühlt. Irgendwann kommt diese Bekannte dann von der Ebene des reinen Fühlens von Scham und Schmerz auf die Ebene des Umgehens mit Schmerz. Das wiederholte Benennen des Empfindens von Schmerz ermöglicht ihr, sich daran zu erinnern, was sie üblicherweise tut, wenn sie leidet. Sie kann dann irgendwann auf die Erinnerung zugreifen und Dinge tun, die ihr da raushelfen.
Ich schlage diesen Umgang auch für die trans*bezogene Selbstabwertung vor. Wenn ich merke, dass ich mich gerade selbst für mein Trans*-Sein hasse, dann kann ich diese Gefühle benennen. Ich könnte z.B. „Schmerz, Schmerz, Schmerz“ oder „Selbsthass, Selbsthass, Selbsthass“ sagen, bis ich etwas Abstand zu dem Gefühlsempfinden nehmen kann. Mit der Zeit habe ich vielleicht so viel Übung, dass ich Muster bei mir erkenne und schneller identifizieren kann, wann ich Selbsthass empfinde und wie sich das bei mir äußert. Zum Beispiel könnte es sein, dass mir heiß wird, ich anfange zu schwitzen und mein Herz schneller schlägt. Und schlussendlich kann ich dann vielleicht sogar irgendwann identifizieren, welche Auslöser bei mir Selbstabwertung triggern. Mit diesem Wissen kann ich dann beginnen, bewusst mit diesen Auslösern umzugehen.
Ein kritisches Bewusstsein davon entwickeln, wem meine Selbstabwertung nützt
Im zweiten Schritt schlägt Brené Brown vor, dass ich ein kritisches Bewusstsein von meinem Gefühl erlange. Für den Umgang mit Scham hat sie zwölf konkrete Schamthemen identifiziert, zum Beispiel auf das eigene Aussehen bezogene Scham. Sie sagt, dass verschiedene Akteur*innen, z.B. auch wirtschaftliche Zweige wie die Schönheitsmedizin oder die Fitnessbranche ein Interesse daran haben, dass ich mich für mein Aussehen schäme und Geld hineininvestiere, etwas an meinem Aussehen zu verändern.
In meinem ersten Text habe ich etwas zur gesellschaftlichen Funktion von verinnerlichter Trans*-Abwertung geschrieben: Die cisnormative Gesellschaft hat ein Interesse daran, dass es uns trans* Menschen nicht gibt und falls doch, wir nicht wahrnehmbar werden sollen. Am besten ist es für die cisnormative Gesellschaft, wenn wir uns selbst und uns gegenseitig unterdrücken. Mit diesem kritischen Wissen über die Funktion von Trans*-Abwertung, kann ich auf Distanz zu diesen Gefühlen gehen und versuchen, etwas an den gesellschaftlichen Strukturen zu ändern, die uns trans* Menschen unterdrücken.
Mit anderen Menschen in Kontakt treten, wenn ich mich selbst abwerte
Brené Brown schlägt als dritten Schritt vor, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, wenn ich mich schäme. Sie geht davon aus, dass das simple Überwinden von Isolation und die Verbindung zu einem anderen Menschen schon hilfreich sind, sich von diesen negativen Gefühlen zu distanzieren. Dabei kann es in der Kontaktaufnahme um jedes Thema, außer dem Schamthema, oder um jedwede gemeinsame Aktivität gehen.
Mit ausgewählten, sicheren Menschen darüber sprechen
Im vierten Schritt empfiehlt sie dann, mit ausgewählten Menschen über die Schamgefühle zu sprechen. Sie schlägt vor, zu überlegen, welche Menschen für welches der zwölf von ihr identifizierten Schamthemen sicher sind und dann mit diesen in den Austausch über diese Gefühle zu gehen. Auf den Umgang mit verinnerlichter Trans*-Abwertung übertragen bedeutet das, dass ich mich mit Menschen in Verbindung setze, die sich selbst mit Trans*-Unterdrückung beschäftigt haben und gut darin sind, mich dazu zu trösten und aufzufangen. Das heißt, es sollten auch Menschen sein, die sich mit dieser Giftkunde auseinandergesetzt haben.
Brené Brown empfiehlt sogar, dass ich mir Schamverbindungsnetzwerke („shame connection networks“) aufbaue. Damit ist gemeint, dass ich mir für jedes Schamthema sichere Personen suche und mir dann dort spezifisch Verbindung und Trost holen kann, wenn ich entsprechende Schamgefühle empfinde. Genauso kann ich mir auch ein Netzwerk aus Menschen aufbauen, die mich trösten können, wenn ich mich trans*bezogen selbst abwerte.
Mich in Selbstmitgefühl üben
Eine weitere Möglichkeit, mit der eigenen Selbstabwertung in Bezug auf mein Trans*-Sein umzugehen, ist Selbstmitgefühl. Ich finde den Ansatz schön, mich selbst als meine*n Freund*in zu begreifen. Wie würde ich mit mir umgehen, wenn ich mein*e beste*r Freund*in wäre und ich merke, dass ich derart leide und mich z.B. selbst in Bezug auf mein Trans*-Sein abwerte? Die Forscherin Kristin Neff hat 2012 vorgeschlagen, sich selbst mit Freundlichkeit zu begegnen. Wenn ich mich mir vorstelle, mit wieviel Liebe und Freundlichkeit ich einer*einem guten Freund*in begegnen würde, wenn sie sich selbst abwertet, kann ich üben, diese Liebe und Freundlichkeit mir selbst zu geben.
Zum Beispiel kann ich mir in einer schmerzhaften Situation sagen: „Das tut weh. Ich bin nicht alleine mit meinem Schmerz, anderen Menschen geht es auch manchmal so wie mir. Möge es mir gut gehen“ (Selbstmitgefühlspause, eine Übung von Kristin Neff). Es kann hilfreich sein, sich zu fragen, welcher Satz Mitgefühl mit der eigenen Situation ausdrückt. Wenn ich das für mich rausgefunden habe, kann ich mir diesen Satz in schmerzhaften Situationen selbst sagen.
Mir vergegenwärtigen, dass viele Menschen unter Ähnlichem leiden
Kristin Neff schlägt weiterhin vor, dass ich mir vorstelle, dass mein Leiden und mein Selbsthass menschliche Gefühle und Teil der menschlichen Erfahrung sind. Das heißt, dass ich mir vorstelle, dass auch andere Menschen Leiden und ich das mit anderen gemeinsam habe. Ich selbst füge noch die Vorstellung hinzu, dass meine Gefühle auch so ähnlich von anderen trans* Menschen empfunden werden und sich vielleicht auch cis Menschen selbst hassen und abwerten. Kristin Neff geht davon aus, dass es möglich ist, in dieser geteilten Menschlichkeit und diesem geteilten Leid Trost zu finden.
Achtsamkeit entwickeln und mich nicht mehr mit dem Schmerz identifizieren
Ein dritter Vorschlag von Kristin Neff ist, mit Achtsamkeit auf die Gefühle des Leidens und des Selbsthasses zu schauen. Sie empfiehlt, sich vorzustellen, dass ich nicht meine Gefühle bin, sondern dass ich eine Person bin, die diese Gefühle fühlt, aber von ihnen verschieden ist. Das nennt sie auch „Disidentifikation“ mit dem Leiden. Damit lässt sich vielleicht die Intensität der Gefühle reduzieren. Vielleicht ist es möglich, dann Raum für die Hoffnung zu schaffen, dass diese Gefühle endlich sind und vorüber gehen werden.
Wir Trans*-Menschen sind alle damit konfrontiert, dass die Gesellschaft uns abwertet und müssen mit dieser Abwertung irgendwie einen Umgang finden. Genauso können wir auch lernen, einen Umgang mit unserer Selbstabwertung in Bezug auf unser Trans*-Sein zu finden. Wir können üben, unsere Gefühle der Scham oder des Selbsthasses zu benennen und unsere eigenen Auslöser dafür zu identifizieren. Wir können ein kritisches Bewusstsein davon entwickeln, in wessen Interesse es ist, dass wir uns für unser Trans*-Sein schämen. Wir können in Verbindung mit anderen Menschen gehen und wir können unsere Gefühle mit sicheren Menschen teilen und darüber sprechen und uns Trost holen. Mithilfe des achtsamen Selbstmitgefühls können wir uns als unsere besten Freund*innen vorstellen und uns darin üben, gut mit uns selbst umzugehen. Wir können uns vorstellen, dass wir mit vielen anderen Menschen diese Gefühle gemeinsam haben und nicht alleine damit sind. Und wir können unsere Schamgefühle als getrennt von uns selbst betrachten, als Wolken, die unsere Stimmung trüben, aber irgendwann auch weiterziehen.
Es gibt also vielfältige Arten und Weisen, mit dieser Selbstabwertung umzugehen. Wir sind ihr nicht einfach ausgeliefert.
Anmerkungen:
Link zum ersten Text über gesellschaftliche Trans*-Abwertung und Selbstabwertung: https://queer-lexikon.net/2023/02/23/trans-abwertung-von-aussen-und-von-innen/
Link zum dritten Text über die Unterstützung von trans* Menschen, die sich selbst abwerten: Folgt
Brené Browns Buch von 2007 zu Scham hat den Titel: „I Thought It Was Just Me (But It Isn’t): Telling the Truth About Perfectionism, Inadequacy and Power“
Kristin Neffs Buch von 2012 zu Selbstmitgefühl hat den Titel: „Selbstmitgefühl – Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden“
Übung von Kristin Neff: https://self-compassion.org/exercise-2-self-compassion-break/