Kummerkastenantwort 4.388: Seit ich geoutet bin, habe ich mehr Dysphorie
Hallo,
ich bin seit ca. einem Jahr als nicht-binär geoutet, habe einen Ergänzungsausweis mit neuem Namen und verwende diesen Namen erst seit kurzem. Bisher dachte ich, ich bin genderfluid, überlege aber zunehmend, ob ich vielleicht transmaskulin (+nicht-binär) sein könnte. Erst seit ich geoutet bin, zieht es mich gefühlsmäßig immer mehr in diese Richtung. Ich merke, dass mich die Pronomen sie/ihr immer mehr stören, die von Menschen die mich nicht kennen automatisch verwendet werden. Außerdem fühle ich mich im Alltag viel dysphorischer als zuvor, fühle mich seltsam und anders als andere. Ich habe das Gefühl mich unter Personen nicht mehr wohlzufühlen, die cis sind und keine trans- Awareness haben (also unter sehr vielen Menschen…). Das macht mich irgendwie einsamer und ist gruselig. Ich fühle mich auch weniger attraktiv/ hab weniger Selbstbewusstsein, weil ich weder männlich gelesen bin, noch mich weiblich fühle. Ich möchte keine medizinische Transition, und weiß, dass ich diese auch nicht brauche, um nicht-binär oder transmaskulin zu sein, aber die soziale Dysphorie ist so groß gerade… Manchmal verspüre ich den Wunsch, Gesichtsbehaarung oder eine tiefere Stimme zu haben, habe aber Angst vor unumkehrbaren Veränderungen. Weil alles so schwierig ist gerade, denke ich manchmal daran, dass ich gerne zurück will und zu“detransitionieren“… Es kommt mir so vor, als hat das Outing vieles schlimmer gemacht und ich habe nun Probleme, die ich vorher nicht hatte… Habt ihr vielleicht einen Rat oder ermutigende Worte? Geht es anderen auch so?
Hello,
es kommt gelegentlich vor, dass Menschen nach einem Coming Out Dinge erleben, wie du sie grade erlebst. Wie kommt das? Eine ganze Menge Energie und Gedanken landet im Coming Out, wann, wo wie, bei wem, was tun, wenn Dinge nicht gut aufgenommen werden? Und danach? Nun alles andere. Ein Coming Out hat Bedeutung, Coming Outs sind super mächtig und super wichtig. Aber, in dem Moment, wo man ein gutes Coming Out hatte, passiert erstmal: nix. Und das ist Teil dieses Problem. Dinge sollten gefühlt besser geworden sein. Aber allein dadurch, auszusprechen, wer man ist, oder wie man liebt, ändert sich ja erstmal noch nichts. Aber einerseits fühlt es sich so an, als sollten Dinge sich geändert haben, immerhin ist jetzt ja ausgesprochen welche Pronomen zum Beispiel richtig sind, dann könnten Menschen das jetzt ja auch richtig machen – aber genau das ist ja nicht, wie die Welt funktioniert. Und hier entsteht eben die Grundlage für noch mehr Dysphorie an der Stelle: Ich weiß genau, was richtig ist, ich hab das auch ausgesprochen, aber die Welt dreht sich weiter als sei nix gewesen. Und das kann schwierig und anstrengend und erdrückend sein.
Was helfen kann, ist zu schauen, was nun wieder wichtiger wird oder erst wichtig wird. Das Coming Out ist geschafft, Haken dran. Was brauche ich jetzt für mich? Das kann immer noch mit dem Coming Out zu tun haben, Dinge für meine Transition – oder auch mit was ganz anderem: steht bald mein Abitur an und ich will wenigstens im Geschichtsabi richtig abräumen? Endlich umziehen? Die Welt endet nicht mit meinem Coming Out, und genau so gibt es auch weiterhin Dinge, die ich Schritt für Schritt angehen kann, weil sie mir wichtig sind und weil sie mir gut tun. Ich muss nicht an der Stelle stehen bleiben, wo ich weiß, wer ich bin, aber die Welt noch nicht, und mir das viel stärker auffällt und mich alles belastet. Mein Leben darf weitergehen.
Liebe Grüße
Xenia