Müssen queere Patient*innen auch zur gynäkologischen Vorsorge? Ein Interview mit der Gynäkologin Helen Sange
Immer wieder bekommen wir Fragen wie diese: „Ich bin cis weiblich, asexuell und nicht sexuell aktiv – muss ich trotzdem zum*zur Gynäkolog*in? Wenn ja, wie oft? Und muss ich wirklich alle Untersuchungen über mich ergehen lassen?“ oder auch: „Ich bin ein trans Mann und habe meine Brüste und meinen Uterus entfernen lassen. Muss ich noch zur gynäkologischen Vorsorge? Und wenn ja: Wo finde ich sensible Ärzt*innen?“ Um diese Fragen zu klären, hat unser Teammitglied Annika Helen Sange interviewt.
Helen Sange ist Fachärztin für Gynäkologie, Geburtshilfe und Sexualmedizin. Sie hat mehrere Jahre an verschiedenen Berliner Kliniken gearbeitet und hat seit März 2023 ihre eigene inklusive gynäkologische Praxis obenrum untenrum in Berlin. In dieser Praxis hat sich sie u. a. auf die Versorgung von trans und queeren Patient*innen spezialisiert.
Annika: Hallo Helen, vielen Dank, dass du unsere Fragen beantwortest. Ich fange mal ganz vorne an: Wieso ist denn gynäkologische Vorsorge überhaupt so wichtig? Und für wen?
Helen: Gynäkologische Versorgung ist wichtig für alle Menschen mit gynäkologischen Organen, das heißt mit Vulva, Vagina, Cervix (also dem Gebärmutterhals) Uterus, Eierstöcken und/oder Brüsten – und zwar egal, ob diese Organe angeboren sind oder erworben, z. B. nach einer Neovagina-Operation. Gynäkologische Erkrankungen machen auch vor trans und queeren Personen nicht Halt – im Gegenteil, diese haben teilweise sogar ein erhöhtes Risiko für sexuell übertragbare Infektionen (STIs) und Folgeerkrankungen wie Cervixkrebs. Alle Personen, die eine Cervix haben, können theoretisch auch Cervixkrebs bekommen und alle Personen, die Brüste haben, können Brustkrebs entwickeln. Das heißt: Es ist wichtig, zur Vorsorge zu gehen.
Annika: Woran kann ich denn eine*n gute*n Gynäkolog*in erkennen?
Helen: Ich finde, das fängt schon beim Telefonat an – wenn man z. B. einen Uterus hat, aber durch Hormon-Ersatz-Therapie (HRT) mit Testosteron eine tiefe Stimme entwickelt hat und/oder einen männlichen Vornamen hat und versucht, einen Termin in einer gynäkologischen Praxis auszumachen, da zeigt sich ganz schnell, ob die Praxis inklusiv für trans und queere Personen ist. Dieser Versuch, einen Termin auszumachen ist oft leider schon die erste Diskriminierungserfahrung. Deswegen gibt es Plattformen wie Queermed, auf denen queersensible Ärzt*innen von Patient*innen, die dort positive Erfahrungen gemacht haben, empfohlen werden. Ansonsten kann man sich auch die Webseite oder die Social Media Kanäle anschauen, ob dort z. B. inklusive Sprache verwendet wird.
Annika: Welche Rechte hat man denn als Patient*in? Welche Untersuchungen muss man machen, welche nicht?
Helen: Manchmal stellen wir Ärzt*innen sehr intime Fragen oder müssen intime Untersuchungen durchführen – und das kann unangenehm sein. Aber: Man muss keine Fragen von Ärzt*innen beantworten, die unangenehm oder übergriffig sind. Man muss auch keine einzige Untersuchung durchführen lassen, wenn man das nicht will. Vielleicht kann man nochmal nachfragen, wieso diese Frage oder Untersuchung wichtig oder notwendig ist. Denn das kann helfen, sich darauf einzulassen. Ich erkläre z. B. immer meinen Patient*innen, dass die, die penetrativen Sex haben – auch wenn es um Sextoys oder um Sex mit sich selbst geht – ein erhöhtes HPV-Risiko haben und deswegen eine Untersuchung der Cervix wichtig ist. Das hilft, zu verstehen, wieso ich diese Fragen stelle und wieso wir diese Untersuchung durchführen. Aber man muss erstmal überhaupt nichts. Nur weil man in einem Behandlungszimmer ist, heißt das nicht, dass es eine Untersuchung geben muss. Wir Ärzt*innen müssen bei allem, was wir tun, um Erlaubnis bitten – denn: alles andere ist Körperverletzung. Deswegen ist Konsens auch bei Arztbesuchen wichtig. Der ärztliche Ethos sieht es eigentlich vor, alle Patient*innen gleich zu behandeln. Des Weiteren ist es gesetzlich verboten, Patient*innen zu diskriminieren. In diesen Fällen kann man rechtliche Schritte einleiten. Ärzt*innen müssen alle Patient*innen gleich behandeln. Und zuletzt: Wenn du mit deinen Ärzt*innen nicht zufrieden bist, darfst du dir andere suchen.
Annika: Wie relevant ist es für meine Ärzt*innen, wenn ich als Patient*in queer bin? Muss oder soll ich ihnen das sagen?
Helen: Man muss nicht sagen, dass man queer ist. Bei trans Personen wird das bei Fragen, z. B. zu HRT, aber oft relevant sein. Uns Ärzt*innen interessiert das individuelle Label von Personen nicht so sehr, also ob sie sich selbst z. B. queer oder trans oder cis identifizieren – aber natürlich, ob und mit wem eine Person sexuell aktiv ist, um ein genaues Bild vom individuellen Risiko, z. B. für sexuell übertragbare Infektionen zu bekommen. Leider gehen Ärzt*innen oft immer noch davon aus, dass alle Patient*innen in der Gynäkologie cis hetero Frauen sind, die einen Kinderwunsch haben, deswegen haben queere Patient*innen leider häufig die Arbeit, diese Annahme richtig zu stellen. Wenn man sich outet können Ärzt*innen aber spezifischer z. B. auf das jeweilige Risikoprofil eingehen.
Annika: Was passiert denn genau alles bei einem gynäkologischen Vorsorge-Termin?
Helen: Das ist individuell und hängt von den Bedürfnissen und Themen der Patient*innen ab. Meistens wird mit einer Anamnese begonnen, das bedeutet einem Gespräch, bei dem wir schauen, ob Vorerkrankungen vorliegen oder ob es z. B. akute Beschwerden gibt. Dazu gehört auch das Angebot, über Sexualität zu sprechen, beispielsweise in Bezug auf Verhütung, STI-Prävention oder Schmerzen. Dann gibt es manchmal kleine Untersuchungen, z. B. wird der Blutdruck gemessen oder man gibt eine Urinprobe ab. Aber es gibt auch invasivere Untersuchungen: das Abtasten der Brust, das genaue Betrachten des Genitals, den Pap-Abstrich von der Cervix, einen Ultraschall von der Vagina aus oder durch die Bauchdecke. Manchmal werden diese Vorsorge-Untersuchungen auch bei einem Termin gemacht, wo es eigentlich um akute Beschwerden geht. Einfach aus dem Grund, dass die Vorsorge erledigt ist und der*die Patient*in nicht nochmal zu einem Termin kommen muss.
Annika: Ab welchem Alter muss man denn zum*zur Gynäkolog*in?
Helen: Die erste gynäkologische Präventionsmaßnahme ist die HPV-Impfung im Alter zwischen 9 und 14 Jahren. Das machen aber häufig die Kinderärzt*innen. Danach beginnen jährliche Vorsorge-Untersuchungen im Alter von 20 Jahren – speziell wird dann einmal im Jahr ein Abstrich von der Cervix zur Krebsvorsorge gemacht. Bis 25 haben die Patient*innen auch Anspruch auf einen jährlichen Abstrich auf Chlamydien. Ab 30 erfolgt jährlich auch eine Tastuntersuchung der Brust, auch zur Krebsvorsorge, sowie eine Anleitung zur Selbstuntersuchung. Man darf natürlich auch schon früher als mit 20 Jahren kommen. Es gibt da keine starre Altersgrenze, sondern die Frage ist, ob man sich bereit fühlt und/oder ob man Beschwerden hat, z. B. starke Schmerzen bei der Menstruation.
Annika: Wer braucht denn eigentlich den Pap-Abstrich der Cervix zur Krebsvorsorge?
Helen: Personen mit Cervix, die auf irgendeine Art sexuell aktiv sind – egal, ob sie gegen HPV geimpft sind oder nicht. Sexuell aktiv schließt hier aber auch Menschen ein, die masturbieren, besonders, wenn sie dabei zum Beispiel Finger oder Sextoys zur vaginalen Stimulation benutzen. Denn auch dabei kann man sich mit HPV infizieren bzw einen bereits vorhandenen HPV in die Vagina bzw an die Cervix bringen. Leider schützen Kondome auch nicht 100% vor HPV. Bei Personen, die nicht sexuell aktiv sind oder waren, z. B. weil sie asexuell sind, kann man das vernachlässigen. Natürlich können diese Personen auch Cervixkrebs bekommen, denn es gibt einen ganz niedrigen Prozentsatz an Cervixkrebs, welcher nicht mit HPV in Verbindung gebracht wird. Da ist das Risiko aber sehr gering. Und natürlich: Wenn man Beschwerden oder Sorgen hat, kann man immer bei dem*der Gynäkolog*in vorbeikommen.
Annika: Müssen denn dann Personen, die nicht sexuell aktiv sind oder jemals waren, überhaupt zum*zur Gynäkolog*in?
Helen: Ja, es ist trotzdem eine gute Idee, eine*n festen Gynäkolog*in zu haben. Sexuell übertragbare Infektionen sind nur ein Aspekt der gynäkologischen Versorgung – die anderen sind z. B. Themen wie Brennen und Jucken an der Vulva oder in der Vagina, Probleme mit dem Menstruationszyklus, Fragen zu Kinderwunsch usw. Da ist es gut, mindestens jährlich einen Termin auszumachen – das muss auch nicht immer eine körperliche Untersuchung bedeuten. Und: gerade, wenn es mal ein akutes oder ein Notfall-Thema gibt, ist es super, schon eine feste gynäkologische Praxis zu haben, die man kennt, wo man sich wohlfühlt und wo man schnell einen Termin bekommen kann. Es gibt nicht unangenehmeres als in einer vulnerablen Situation zu sein, zum Beispiel weil man Schmerzen hat, und dann eine gynäkologische Praxis aufzusuchen, in der man noch nie war. Das kann mitunter traumarisierend sein.
Annika: Was ist denn mit Personen, die Vulven haben und die (auch) Sex haben mit Personen, die Vulven haben? Welches Risiko haben diese in Bezug auf STIs?
Helen: Es gibt keine großen Unterschiede zu Sex zwischen Menschen mit Penis und Vulva. Das heißt: Auch diese Patient*innen sollten regelmäßig zur Vorsorge kommen und sich, z. B. wenn sie wechselnde Partner*innen haben, regelmäßig auf sexuell übertragbare Infektionen testen lassen – diese können nämlich z. B. auch bei Oralsex übertragen werden. Übertragbare Infektionen sind z. B. Syphilis, Gonokokken und HPV. Insofern: Regelmäßig testen und mit Sexpartner*innen über STIs und wann man sich das letzte Mal getestet hat, sprechen!
Annika: Wie ist das mit Personen, die eine Mastektomie hatten? Müssen die noch zur Brustkrebsvorsorge kommen?
Helen: Rein theoretisch nicht. Gute Chirurg*innen sorgen dafür, dass wirklich alles Brustgewebe entfernt wird – aber manchmal bleibt eben ein bisschen Gewebe übrig. Das Risiko ist sehr gering, vor allem bei Personen, die auch Testosteron nehmen und die ggf. eine Eierstockentfernung hatten. Ich empfehle, nach der Mastektomie mindestens einmal zur Brustkrebsvorsoge zu kommen und dann den weiteren Plan mit dem*der eigenen Gynäkolog*in zu besprechen.
Annika: Und wie ist das nach einer Hysterektomie, also einer Entfernung des Uterus?
Helen: Das kommt darauf an, wie die Hysterektomie gemacht wurde, weil es verschiedene Operationstechniken gibt. Es ist entscheidend, ob die Cervix noch vorhanden ist. Wer eine Cervix hat, kann dort Krebs entwickeln und sollte also, wenn er*sie sexuell aktiv ist, zur Vorsorge kommen.Wer keine Cervix mehr hat – und sich vielleicht sogar die Vagina hat entfernen lassen, braucht dafür keine Vorsorge, denn die Organe gibt es dann ja nicht mehr. Kurz gefasst: Wer Organe wie z. B. auch Eierstöcke, aber auch eine Vulva hat, sollte zur Vorsorge kommen.
Annika: Das gilt dann ja auch für Personen, die solche Organe im Lauf ihres Lebens erworben haben, oder? Also z. B. für Personen mit Neovagina?
Helen: Genau. Dafür gibt es allerdings noch keine standardisierten Untersuchungen.Aber auch diese Personen brauchen medizinische Versorgung, z. B. in Bezug auf STIs und Krebsvorsorge. Und Personen, die erst später im Leben durch HRT Brüste entwickelt haben, haben auch ein Brustkrebsrisiko und sollten deswegen regelmäßig zur Vorsorge.
Annika: Vielen Dank für das Interview!