Kummerkastenantwort 369 – Ich komme in dieser gegenderten Welt nicht klar; was kann ich machen?
Hallo,
Ich bin genderqueer, und meine Freunde verstehen das und akzeptieren mich auch. Aber ich hab trotzdem das Gefühl, dass mich niemand versteht. Ständig fragen mich Leute online, ob ich denn jetzt biologisch männlich oder weiblich bin, und sie verstehen es nicht, wenn ich sage, dass das doch nicht wichtig ist. Selbst meine Mutter hat mich nach dem biologischen Geschlecht eines enby Freundes von mir gefragt, nachdem ich von ihm erzählt habe (Ich bin nicht geoutet). Ich komme in dieser gegenderten Gesellschaft nicht mehr klar, in der ich jedes Mal 5 Minuten vor der Klotür stehe und überlege, ob ich auf die Jungs oder auf die Mädchentoilette gehen soll. Beides fühlt sich falsch an, ich bin einfach kein Junge und erst recht kein Mädchen. Was kann ich machen?
Danke im Voraus für eure Hilfe
Hallo du,
dein Frust und deine Verzweiflung sind sehr verständlich: Der Großteil unserer Gesellschaft denkt halt leider, es gibt nur zwei Geschlechter, und dieser Quatsch wird an vielen Orten mit allen Mitteln durchgesetzt. Da können sich Menschen wie du und ich, die in dieses zweigeteilte System nicht reinpassen, schnell unverstanden, unsichtbar und fehl am Platz fühlen.
Aber du bist nicht allein! So wie dir geht es auch super vielen anderen Leuten, und es ist wichtig, das im Blick zu behalten. Dein enby Freund und du und ich, uns gibt es auch, und noch sehr viele andere Leute wie uns, und wir lassen uns nicht in diese zwei Kategorien schubsen. Und klar, viele Menschen haben das noch nicht verstanden – deshalb gibt es oft unverschämte, verständnislose Fragen im Internet, ahnungslose Kommentare von Eltern oder unnötig gegenderte Toiletten. Aber es gibt auch die andere Seite: Es gibt nichtbinäre Communities online und offline, enby Menschen, die sich in der Öffentlichkeit den Raum einnehmen, der uns genauso zusteht wie allen anderen, es gibt Fortschritte überall, in der Politik, der Medizin, in gesellschaftlichen Debatten, und es gibt vor allem eins: Hoffnung. Die Kämpfe von queeren Communities in den letzten Jahrzehnten zeigen, wie viel sich bewegen kann, wenn wir zusammenhalten und lautstark gegen ein System kämpfen, das uns unsichtbar machen und klein halten will. Aktivistische Gruppen wie die Aktion Standesamt 2018 und das Aktionsbündnis Dritte Option haben sichtbar gemacht, wie viele von uns in Deutschland sichtbar machen wollen, dass sie nicht männlich oder weiblich sind. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass wir ein Recht haben, Geschlechter außerhalb von männlich und weiblich sichtbar zu machen.
Was ich sagen will, ist: Klar gibt es immer noch massenweise Ahnungslose und Leugner*innen und Internet-Trolle. Aber es gibt auch super viel auf der anderen Seite, auf unserer Seite, und es tut sich in der Gesellschaft viel zu unseren Gunsten. Und wenn wir nicht verzweifeln wollen, müssen wir uns das immer wieder vor Augen halten und uns mit Menschen umgeben, die auf unserer Seite sind und die genauso wie wir keinen Bock mehr haben auf den alten, zweigeteilten Mist.
Also, was kannst du machen?
Dich weiter laut wehren, wenn Leute unangebrachte Fragen stellen oder dich und andere in binäre Geschlechterboxen stecken wollen. Rückhalt suchen bei deinen Freund*innen – vor allem bei denen, die wie du die Schnauze voll haben von den Kategorien ‘männlich’ und ‘weiblich’. Den Leuten ans Bein pinkeln, die behaupten, dass geschlechtsneutrale Toiletten unnötig sind. (Nicht wörtlich, eher so im übertragenen Sinne. Wobei… 🤔) Wenn du grade Kraft dafür hast: Dich umschauen, wo du was gegen das zweigeschlechtliche System tun kannst – z.B. in einer Schul- oder Unigruppe, einem CSD-Team, in einem aktivistischen Bündnis, oder einfach nur mit ein paar anderen Leuten, die sich z.B. für neutrale Toiletten in ihrer Umgebung oder für andere Geschlechtsoptionen irgendwo auf Formularen oder anderswo einsetzen. Und wenn du mal keine Kraft dafür hast: Einfach sichtbar weiter existierenls genderqueere Person. Dich gut um dich selbst kümmern und schauen, was dir grade gut tut. Dir von anderen Leuten helfen lassen.
Lass dich nicht unterkriegen. Wir stehen das gemeinsam durch!
Ich schick dir ganz viel Kraft dafür und wünsch dir alles Gute,
Balthazar