Kummerkastenantwort 651: Kann ich mit so wenig Dysphorie überhaupt trans sein..?
Hi!
Ich bin biologisch ein Mädchen (18) und habe lange nicht daran gedacht mich als irgendetwas anderes zu identifizieren, weil ich nicht wusste, dass ich andere Optionen habe. Aber ich habe vor kurzem realisiert wie wohl ich mich in maskuliner Kleidung, mit einem maskulinen Haarschnitt fühle, dass ich mir selbst auf Fotos am meisten gefalle, wenn ich am maskulinsten wirke. Ich denke manchmal daran, dass ich glücklicher ohne Brüste wäre und dass mir der Gedanke für einen Jungen gehalten zu werden irgendwo gefällt.. trotzdem, mit ‘er’ angesprochen zu werden, von mir selbst als ‘Mann’ zu denken, fühlt sich so fremd und falsch an. Und ich verabscheue meinen jetzigen Körper auch nicht so wie es jemand der Trans ist normalerweise zu tun scheint.. ich trage meinen Binder nur ab und zu und schäme mich nicht für die weiblichen Teile meines Körpers, auch wenn ich sie nicht liebe. Kann ich mit so wenig Dysphorie überhaupt trans sein..?
Ich glaube ich kann ziehmlich sicher sagen, dass ich nichtbinär bin.. aber dass es im Deutschen kein they/them gibt, ist so frustrierend, weil er und sie irgendwie beide falsch klingen. Generell haben mich klassische Geschlechterrollen schon immer gestört..
Ich habe aber auch online jede Menge Kritik an nicht binären Personen gesehen, dass sie nur ‘besonders’ sein wollen, dass sie Geschlechterrollen nicht aufbrechen sondern verstärken, dass Leute nicht verstehen warum sich jemand unbedingt einem neuen Label zuordnen muss, wenn man einfach genauso gut eine gender-non-conforming cis Frau sein kann.. und ich wüsste nicht wie ich auf sowas antworten sollte.
Ich habe auch gerade erst heraus gefunden, dass es sowas wie Psychotherapie für nicht binäre und trans Personen gibt und es hört sich an wie etwas, dass ich machen wollen würde um mir klarer zu werden was ich bin und ob ich meinen Körper operativ anpassen will. Aber es ist auch sehr teuer mit circa 100€ pro Stunde.. allein die Entscheidung eine solche Therapie anzufangen, scheint mir so überwältigend und weckt Zweifel ob das überhaupt notwendig ist und ob ich damit nicht irgendwie ‘überreagiere’. Es hilft auch nicht dass ich Angst bei dem Gedanken an eine Hormontheraphie habe, die wahrscheinlich damit zusammenhängen würde, weil ich eine furchtbare Angst vor Spritzen habe.
Ich weiß dass es hilfreich wäre andere nicht binäre und trans Personen zu treffen, aber ich habe Angst mich nicht zugehörig zu fühlen, ich bin generell scheu in fremden Gruppen.. und ich lebe in einem kleinen Dorf und müsste erstmal eine Stunde oder mehr fahren umzu irgendeinem Treffen zu kommen.
Ich schätze die Frage, die mich momentan am meisten plagt, ist ob ich qualifiziert dazu bin um solche Schritte zu wagen, wenn ich sie überhaupt finanzieren kann.. oder ob ich es nicht lieber erstmal beiseite schiebe und mich auf Hochschulen konzentriere, ich muss ja immerhin noch Geld für eine Wohnung übrig haben.
Tut mir leid, dass es so lang geworden ist, ich musste vieles einfach los werden und wusste lange nicht wo.. vielen Dank dass ihr eine Platform für solche Fragen und Sorgen bietet und euch die Mühe macht auf so vieles einzugehen!
Hallo du,
zuerst mal: du musst dich nicht für die Länge deiner Frage entschuldigen! Wir sind dafür da, um zuzuhören. Und es scheint so, als würde dir eine Menge auf dem Herzen liegen, das einfach mal raus muss. Danke, dass du es uns anvertraust.
Du schneidest hier ein paar verschiedene Themen an und ich hoffe, ich gehe auf alles so gut wie möglich ein. Wenn ich aber was auslasse oder du über irgendwas nochmal im Detail reden möchtest, kannst du uns gern jederzeit wieder schreiben. Jetzt aber ganz von vorne.
Trans sein ohne Dysphorie?
Es stimmt, in der Gesellschaft wird oft angenommen, dass Transsein automatisch bedeutet, seinen eigenen Körper zu hassen und abzulehnen. Diese Annahme kommt aus der Sexualmedizin der 60er Jahre und gilt inzwischen in der Medizin teilweise als veraltet. Ja, es stimmt, dass viele trans Menschen unglücklich mit manchen Teilen ihres Körpers sind, und daran etwas ändern wollen. Das ist okay, und diese Menschen müssen unterstützt werden, ihren Körper so anzupassen, wie es für sie gut und richtig ist. Aber das gilt längst nicht für alle! Trans ist nicht das gleiche wie Selbsthass und dass die Gesellschaft uns oft darauf reduziert, sagt mehr über die Gesellschaft aus als über uns. Viele trans Menschen sind okay mit ihrem Körper oder haben keine Meinung ihrem Körper gegenüber. Andere sind zwar vielleicht nicht zufrieden mit manchen Teilen ihres Körpers, beschließen aber aus verschiedenen Gründen, nichts daran zu ändern. Es gibt endlos viele verschiedene Arten trans zu sein und mit dem eigenen Körper umzugehen.
Nichtbinär sein und Diskriminierung
Es ist schön, dass du mit ‘nichtbinär’ ein Label gefunden hast, das für dich passt. Leider wird das in der Gesellschaft und auch anderswo oft nicht so ernst genommen, belächelt und diskriminiert. Ich möchte einmal ganz klar sagen: Nichtbinär ist eine echte Geschlechtsidentität, genauso echt wie männlich und weiblich. All das sind Begriffe, die wir benutzen, um die Welt in Kategorien zu teilen und keine dieser Kategorien ist “richtiger” oder “echter” als eine andere. Unsere nichtbinäre Geschlechtsidentität ‘verstärkt’ auch nicht die Geschlechterrollen, die stärken sich schon von ganz alleine. Warum eine Person (oder in diesem Fall: du) sich entscheidet, sich als nichtbinär zu bezeichnen und nicht als gender-nonkonforme cis Frau, darauf gibt es keine klare Antwort. Es hängt eben viel damit zusammen, wie eine Person sich innen drin fühlt und wie eins die Welt sieht. Das ist was, was von außen leider niemensch sehen kann, und deshalb tun sich so viele Menschen schwer damit. Für viele von ihnen gilt immer noch: Was sie selbst nicht sehen können (oder selbst empfinden), kann ja gar nicht wahr sein.
Das Problem sind aber nicht wir, die nichtbinären und/oder trans Menschen. Das Problem ist ganz klar das hart geschlechtergetrennte System, in dem nur Mann und Frau Platz haben und wo ganz klar vorgeschrieben ist, wie Mann und Frau sich zu verhalten haben. Dieses System können wir nur herausfordern, wenn wir als nichtbinäre Menschen sichtbar werden und die klare Rollenteilung hinterfragen. Deine Existenz als nichtbinäre Person ist nicht das Problem, sondern ein Teil der Lösung.
Geschlechtsneutrale Sprache
Und ja, es ist verdammt schwer auf deutsch, sich geschlechtsneutral auszudrücken. Gerade Pronomen sind da sehr frustrierend. Viele nichtbinäre, deutschsprachige Leute werden deshalb kreativ mit Pronomen: Manche lassen sie für sich ganz weg und verwenden nur noch den Namen oder Spitznamen statt er oder sie. Andere benutzen ‘es’ für sich. Wieder andere denken sich ganz neue Pronomen aus oder benutzen sogenannte Neopronomen, die andere nichtbinäre Leute sich schon ausgedacht haben. Beispiele sind xier, nim/nims, per/pers oder noch weitere. Eine ideale, allgemein anerkannte und verbreitete Lösung wie they/them gibt es leider (noch) nicht. Da müssen einfach alle schauen, was für sie persönlich passt.
Psychotherapie und Hormone?
In Deutschland werden gesundheitliche Leistungen wie Psychotherapie für trans und nichtbinäre Menschen genauso wie Hormontherapien und viele andere medizinische Maßnahmen von Krankenkassen übernommen. D.h. eine Therapie musst du nicht aus eigener Tasche zahlen. Therapeut*innen, die sich mit trans Themen auskennen, findest du z.B. in dieser Liste. Und keine Sorge, wenn es in deiner Nähe nichts gibt: Du kannst auch einfach psychotherapeutische Praxen in deiner Umgebung ansprechen und mit ihnen über dieses Thema reden. Da wird sich schnell zeigen, wer dem Thema wirklich positiv gegenübersteht und damit umgehen kann. Dazu hilft vllt. auch diese Broschüre – die soll Therapeut*innen helfen, die noch nicht (so oft) mit nichtbinären Menschen gearbeitet haben. Ich persönlich habe die jeweils am Anfang einer Therapie meinen Therapeut*innen weitergegeben, damit sie sich einlesen konnten.
Auch Hormontherapie übernehmen Krankenkassen automatisch. Ob das notwendig ist oder ob du das möchtest, findest du am besten ganz in Ruhe in der Therapie und/oder in Gesprächen mit anderen trans und nichtbinären Menschen heraus. Und keine Sorge – es geht auch ohne Spritzen! Testosteron lässt sich problemlos als Gel zum Auftragen verabreichen.
Austausch mit anderen
Ich verstehe voll und ganz deine Probleme, Anschluss zu anderen trans und nichtbinären Menschen zu finden. Auf dem Dorf ist das fast immer schwierig, und neue Gruppen können ganz schön überfordernd sein. Hier sind meine Ideen: Zum einen kannst du auch erstmal im Internet Anschluss suchen. Kennst du z.B. schon unseren Regenbogenchat? Da kannst du dich mit anderen jungen Leuten über deine Fragen austauschen oder auch einfach nur so plaudern. Auch sehr hilfreich kann es sein, trans und nichtbinären Leuten auf Social Media zu folgen. Viele reden da sehr offen über ihre Erfahrungen und Gefühle. Und zuletzt, falls du dich doch entscheidest, mal zu einem Gruppentreffen gehen zu wollen: Vielleicht hilft es ja, der Gruppe vorher zu schreiben? Viele Jugendgruppen nutzen Social Media und beantworten gerne im Voraus deine Fragen. Dann lernst du zumindest schonmal eine Person kennen, die da sein wird und bist ein wenig vorbereitet.
Zusammengefasst…
Jetzt ist meine Antwort auch recht lang geworden. Ich hoffe, es sind hilfreiche Infos für dich dabei! Ob du trans bist oder nicht, wie du damit umgehen sollst und welche Schritte du gehen möchtest, das kannst nur du herausfinden. Ich glaube, du bist auf einem guten Weg, und ich wünsche dir dabei viel Ruhe, Unterstützung und alles Liebe.
Viele Grüße,
Balthazar