Regenbogenkuchen

Heute gibt es eine Kurzgeschichte von Izzy. Vorwissen oder Zusammenhang braucht ihr nicht. Wenn Izzy dem Queer Lexikon nicht gerade eine Kurzgeschichte zu Weihnachten schenkt, studiert sie was mit Sprachen oder twittert als @polyamIzzy
(CNs: Meer, Autofahren, Essen, Stress bei der Lohnarbeit und im Aktivismus)

„Du hast immer gesagt, du willst mal einfach ans Meer fahren!“
„Nicht an einem Feiertag! Nicht so plötzlich!“
„Die Straßen sind nie wieder so frei!“

Jay hob die Hände, um sich theatralischer zu beschweren als sonst, aber er ließ sie wieder sinken. Wenn Nina etwas wollte, dann setzte sier das auch durch. Und jetzt, wo die Versuchung einer Pause von mehreren Stunden vor ihm lag, sah sie auf einmal ziemlich gut aus. Er stellte sich vor, wie Nina das hier geplant und einen verdammten Mietwagen geholt hatte. Weil er siem doch wieder dafür abgesagt hatte, stattdessen am Schreibtisch zu arbeiten, obwohl es ein Feiertag war.

Sier grinste ihm von hinter dem Steuer zu, als er einstieg, und drückte aufs Gas, sobald sein Gurt eingerastet war. „Snacks sind hinter deinem Sitz, aber gib mir dann auch was. Bei Pausen melden und so.“

Jay dachte an seine To-Do-Liste, die er gerade erst nochmal abgeschrieben hatte, bevor er nach unten gegangen war, um „kurz Hallo zu sagen“. Aber tatsächlich war kein Herd mehr an oder so etwas – und alles andere würde im Zweifel schon seine Mitbewohnerin finden und sich darum kümmern. Er… konnte eigentlich besser hier sitzen, als er in den ersten Sekunden gedacht hatte.

Ihr Versprechen, sich gegenseitig aus der Arbeit herauszureißen, war viele Jahre alt, aus der Zeit der Mittelstufe. Er war froh darüber, dass er im letzten Jahr nicht so gestresst gewesen war, dass es so ein Treffen gab. Und gleichzeitig fühlte sich dabei ertappt, dass es bisher fast immer er gewesen war, der an einer ungesund langen Zeit nur vor dem Schreibtisch gehindert werden musste. Wer hatte diesen üblen Plan gehabt, nebenbei an der Uni zu arbeiten? Obwohl, eigentlich sie beide, Nina hatte nur das Studium dort abgebrochen. 

Jetzt schien es siem ein Anliegen zu sein, dass er etwas sagte. „Und, welche Welt rettest du diesmal, indem du dich überarbeitest?“
Jay lachte und deutete auf sier Handy auf der Konsole. „Whoa, gib mir erstmal das Album. Das hier ist doch erst der zweite Song.“

Sier sagte nichts mehr, bis das Album durchgelaufen war und sie an einer Raststätte standen. Angenehmes Schweigen, das mochte er immer an Zeit mit siem. Dann: „Jetzt?“

Jay blinzelte und kam nach – er überlegte und sah nach – einer halben Stunde wieder etwas in der Realität an. Gefühlt war er keinen Schritt weitergekommen. Immerhin musste er nicht auch noch fahren, Nina war klar das begeistertere Autofahrende von ihnen.

Bevor er zum nächsten Mal auf die Uhr schaute, brach es plötzlich aus ihm heraus: die Idee für das nächste Projekt, die fehlenden Mittel und die Stunden der Arbeit, von denen er immer noch nicht wusste, ob er sie für den Job würde anrechnen können. Aber der wichtige Inhalt. Der nicht einfach so liegengelassen werden konnte.

Nina hörte zu. Sier klopfte mit den Fingern einer Hand aufs Lenkrad, als er fertig war, aber sehr nebenbei und für ihn angenehm. „Du kannst nicht allein für alle Repräsentation sorgen, die wir alle brauchen würden. Das ist nicht das realistische Ziel und erst recht nicht das Minimum, das weißt du, oder?“ 

Jay hatte sofort eine ganze Wand von Argumenten im Kopf, aber es kam ihm vor, als hätte er diese Aussage schon ein paar Mal gehört. Und zumindest, wenn er sie nicht auf sich bezog, ergab sie genug Sinn, um sich damit zu beschäftigen. Er seufzte.

„Jay. Ich mache mir keine Sorgen, weil du mich einmal versetzt. Ich ziehe dich da als Teil unserer Abmachung für heute raus, denn es sieht aus, als würde es ungesund werden.“

„Ich weiß“, sagte er, aber es tat trotzdem gut, es noch einmal zu hören.
„Was sind deine nächsten Schritte, um es nicht noch einmal soweit kommen zu lassen?“ Nina hielt einen imaginären Notizblock hoch, es ließ sien ein wenig wie eine interviewende Person für einen Job aussehen.
Jay seufzte wieder, aber diesmal eher ironisch. „Hätten wir das nicht alles am Meer besprechen sollen?“

„War mal der Plan.“ Nina zeigte auf das Schild an der Ausfahrt. „Aber wir sind in weniger als einer halben Stunde da. Wie wär’s-“ Sier grinste. „Wir machen uns einfach einen entspannten Nachmittag am Meer und reden nicht nur darüber, dass du dein Problem erkennen solltest, sondern stattdessen über schöne Dinge?“

Dass Jay auch grinsen musste, war er eigentlich gewohnt – aber es fühlte sich gut an.

„Ich hab eine Flagge dabei!“ Nina griff hinter sich auf die Rückbank und hatte tatsächlich eine Regenbogenflagge eingepackt, die Progress-Version, die sie nur noch verwendeten, wenn es irgendwie ging.

„Erholung durch entspannt queer sein?“, fragte er. 

Nina zuckte mit den Schultern. „Zumindest in manchen Ecken in diesem Land geht das ziemlich gut. Braucht halt Voraussetzungen, aber findet immer noch in deinem Kopf statt. Ist wie Regenbogenkuchen. Kuchen und gleichzeitig gut fühlen mit Queerness statt schwierig.“ Sier lächelte etwas nachdenklicher. „Muss ich aber auch noch üben.“

Am Meer stellten sie den Mietwagen am Rand eines Parkplatzes ab und tauchten in den Dünen unter, sodass sie den Strand sahen und einen Weg dorthin hatten, aber kaum von außen zu sehen waren. Jay war ewig nicht mehr hier gewesen, doch es fühlte sich erstaunlich positiv an. Nina hatte tatsächlich Regenbogenkuchen dabei, den er vor Lachen fast in den Sand fallen ließ. Sie sprachen nicht über die Arbeit, die Frage nach Jays Eltern und der nächsten großen Familienfeier oder dem nervigen Typen, der Ninas Chef war. Sie saßen einfach da, und Jay vergaß langsam die nächste Deadline. Die würde zu Hause immer noch warten. Die Welt auch.

Vielleicht musste Jay auch einfach noch ein wenig üben. Ein bisschen alles, doch vor allem, entspannt queer zu sein. Aber gerade kam ein Gefühl auf, das vielleicht in diese Richtung ging. Und es fühlte sich an, als würde es sich lohnen.

Dieser Blogpost ist Teil der 2020-Weihnachtsextravaganza: Ab Weihnachten täglich ein neuer Blog-Beitrag hier im Queer Lexikon. Neben diesem Blog produzieren wir als gemeinnützigeer Verein auch Infovideos, veröffentlichen Broschüren, betreuen einen anonymen Kummerkasten, moderieren den Regenbogenchat und vieles mehr. Wenn du Xenia, die diese Aktion verantwortet, mal eine Pause gönnen magst, kannst du ihr einen Ko-Fi ausgeben. Für Unterstützung für das Queer Lexikon gibts noch mehr Möglichkeiten.

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