Trans* im Mittelalter?

Von Dr. Alan Lena van Beek (they/them)

Im Wintersemester 2021/2022 habe ich an der Technischen Universität Braunschweig im Bereich Ältere deutsche Literatur in der Germanistik ein Seminar namens „Trans* im Mittelalter?“ gegeben. Viele queere Menschen, die das Seminar im Wahlfach belegt hatten, schrieben mir begeisterte Rückmeldungen. Doch unter anderem erreichte mich auch folgender Kommentar bei der Auswertung:

Genderideologie ist eine Erfindung des 21. Jahrhunderts und wird kritiklos auf das Mittelalter angewandt.

Das Wort „Genderideologie“ tut so, als ob Gender Studies keine Wissenschaft wären, sondern eine Weltanschauung. Zudem ist es ein Begriff der Anti-Gender-Bewegung. Dieser Beitrag soll erklären, warum die Behauptung oben so nicht stimmt, und will einen Einblick in als trans* lesbare Personen aus der Literatur des Mittelalters geben.

Queer und Trans Studies gibt es tatsächlich es erst seit relativ kurzer Zeit. Menschen, die sich nicht auf einer binären Skala (Mann/Frau) einsortieren lassen oder lassen wollen, gab es aber schon immer. Dass die Welt nicht nur binär bzw. zweigeschlechtlich organisiert ist, sieht man auch in der Literatur des Mittelalters. Den Schreibenden stand jedoch nicht die heutigen Begriffe zur Verfügung, um sich auszudrücken.

Das europäische Mittelalter ist stark durch die christliche Religiosität geprägt. Da die Kirche heute schwierige Positionen gegenüber queeren Personen vertritt, liegt die Annahme nahe, dass es im Mittelalter bestimmt noch schlimmer gewesen sei. Doch in der christlichen Exegese (das heißt: in Auslegungen der Worte Gottes durch Theolog*innen) und in der mittelalterlichen Literatur finden sich viele Dinge, die heute mit einem Vokabular aus den Queer und Trans Studies umschrieben werden können.

Im Folgenden stelle ich drei mittelalterliche Figuren vor, die als trans* gelesen werden können. Hierbei gibt es je ein Beispiel aus der Geschichtsschreibung, aus religiösen Texten und einer Verserzählung der Literatur des Mittelalters.

1. John/Eleanor Rykene

Einer der berühmtesten Fälle der Mittelalterstudien ist eine urkundlich bezeugte Person, die im 14. Jahrhundert in London Sexwork ausübte. In der Gerichtsakte (s. Abb. 1) steht:

On 11 December, 18 Richard II, were brought in the presence of John Fressh, Mayor, and the Aldermen of the City of London John Britby of the county of York and John Rykener, calling [herself] Eleanor, having been detected in women’s clothing, who were found last Sunday night between the hours of 8 and 9 by certain officials of the city lying by a certain stall in Soper’s Lane committing that detestable, unmentionable, and ignominious vice.¹

Im Original heißt es auf Latein:

„Johannes Rykener, se Elianoram nominans veste muliebri detectus“, etwa: „Johannes (John) Rykener, sich selbst Elianora (Eleanor) nennend, in Frauenkleidern aufgefunden.“

A photograph of the first page of the notes kept during Rykener's interrogation
Abb. 1 Corporation of London Records Office, Plea and Memoranda Roll A34, m.2 (1395).jpg (Quelle: Wiki https://en.wikipedia.org/wiki/John/Eleanor_Rykener)

Viele Forschende haben John/Eleanor Rykener als transgender gelesen und bezeichnet. Die Beschäftigung mit Eleanor Rykener hat in der Forschung in UK und USA einen „transgender turn“ mitgetragen.

¹ David Lorenzo Boyd and Ruth Mazo Karras, ‘The Interrogation of a Male Transvestite Prostitute in Fourteenth-Century London’, GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 1 (1995), 459-465, bearbeitet von François·e Charmaille.

2. Jesus Christus

Ja, richtig gelesen: Jesus. Sein Körper ist erwartungsgemäß voller Symbolik. Aber habt ihr schonmal ein Abbild des Heilands am Kreuz gesehen und bei seiner blutenden Seitenwunde an eine Vagina gedacht? (Abb. 2, 3)

Abb.2 New York, Metropolitan Museum of Art, The Cloisters MS. 69.86, fol. 328r. CC0 1.0 Universal

Abbildung 2 zeigt Jesus am Kreuz, wie er mit dem Finger auf die Seitenwunde deutet. Dies wurde als phallisches Symbol interpretiert.

Abb. 3 New York, Metropolitan Museum of Art, The Cloisters MS. 69.86, fol. 331r. CC0 1.0 Universal

Abbildung 3 zeigt eine stilisierte Seitenwunde und die sog. Arma Christi (die Werkzeuge, die an seinem Tod beteiligt waren).

Jesus empfängt bei seinem Tod mehrere Wunden: Füße und Hände werden an das Kreuz genagelt (also insgesamt vier). Die fünfte Wunde entsteht durch den römischen Soldaten Longinus, der ihm seinen Speer in die Seite stößt. In der christlichen Exegese (der Auslegung der Heiligen Schrift) und der Verehrungspraxis des Mittelalters spielte der Leib Christi eine große Rolle. Die Seitenwunde erfuhr dabei Zuschreibungen, die in der Moderne in Vergessenheit geraten sind. Zur Vorstellung Jesu als zweigeschlechtliches Wesen könnt ihr euch diesen Vortrag von Linus Möllenbrink anschauen (ca. 11 Minuten):

Zwischen 1200 und 1500 hatten die Menschen sonderbare Vorstellungen darüber, wie sich Männer und Frauen entwickeln und wie ihre Sexualorgane entstehen. In dieser Zeit gab es vor allem religiöse Literatur. Sex und Christentum? Mittelalter-Forscher Linus Möllenbrink räumt in seinem Vortrag mit dem Vorurteil auf, dass das christliche Bild von Sexualität in dieser Zeit eintönig gewesen sei. Im Gegenteil: die Vorstellungen waren damals fluider als heute.

https://www.youtube.com/watch?v=pyyaqRZhbVE

Die Seitenwunde Jesu erhält die Zuschreibung als Vagina. So wurden beispielsweise auch blutende Seitenwunden auf Gürteln aus Pergament gemalt, welche bei der Geburt angelegt wurden, um die gebärende Person zu schützen. Forschende heute gehen neben der zweigeschlechtlichen Darstellung Jesu (also binär) noch weiter, als sich nur Jesus als Mutter vorzustellen. Sophie Sexon beispielsweise betrachtet im Rahmen der Trans Studies den Leib Jesu als nichtbinär (s.u.). Übrigens wurden die Wunden durch Berühren, Reiben und Küssen in die Andachtspraxis miteinbezogen, weswegen viele Manuskripte besondere Spuren von Abreibungen aufweisen, wie hier im Bild zu erkennen ist. (vgl. Abb. 4, z. B. unten rechts).

Abb. 4 Walters Art Museum Ms. W.165, Fol. 110v

3. Heinrich in „Der Borte“ von Dietrich von der Glezze

„Der Borte“ („Der Gürtel“) ist eine mittelhochdeutsche Erzählung, die Anfang des 14. Jahrhunderts überliefert ist (s. Abb. 5).

Abb. 5 Cologny, Fondation Martin Bodmer Cod. Bodmer 72, fol. 233v.

Die Verserzählung handelt von einer adeligen Frau und der Beziehung zu ihrem Mann Konrad. Die namenlose Frau (dass für eine Frau kein Name genannt wird, ist für das Mittelalter nicht untypisch) schläft mit einem Ritter, der ihr als Gegenleistung zwei Windhunde, einen Habicht, ein tolles Pferd und einen Gürtel gibt, welcher unbesiegbar und immer ehrenhaft macht. Diese Dinge sind Statussymbole der Männlichkeit in der mittelhochdeutschen Literatur (sozusagen der Tesla, die Rolex und der Sneaker der höfischen Kultur). Als Konrad erfährt, dass seine Frau ihn betrogen hat, verlässt er sie. Die Frau legt sich Männerkleidung an, schneidet sich die Haare ab und gibt sich den neuen Namen Heinrich mit der Aussage: „ich bin ein ritter und nicht ein wip“ / „Ich bin ein Ritter und keine Frau“ (Vers 471)

Abb. 6 (herre ich heize heinrich) Cologny, Fondation Martin Bodmer Cod. Bodmer 72, fol. 237ra

Heinrich nimmt mit dieser höfischen Ausstattung siegreich an Turnieren teil. Der Text und die Erzählstimme nutzen fortan den selbstgewählten Namen „Heinrich“ und er-Pronomen für die Figur. Es findet also eine Transition auf erzählerischer und sozialer Ebene statt.

Konrad ist neidisch wegen des Gürtels, dessen Kräfte er auch gerne für sich hätte. Heinrich versucht, Konrad im Tausch gegen den Gürtel zum homosexuellen Geschlechtsverkehr zu verführen. Am Ende gibt es jedoch einen Reveal, der die Bereitschaft Konrads zum schwulen Sex als sündhaft bezeichnet und somit die „Weltordnung“ des Binären und der Heteronormativität wieder herstellt. Auch dieser Text wird in der Germanistik mit queerer Theorie untersucht.

Wo Heteronormativität draufsteht, muss auch im Mittelalter nicht unbedingt Heteronormativität drin sein. Ein Text des Mittelalters konnte durchaus an der Oberfläche binäre Geschlechter und heterosexuelle Beziehungen zeigen und trotzdem queere Themen besprechen.

Weiterlesen?

Dies waren nur drei Beispiele aus einer Fülle von Figuren, die in der mittelalterlichen Literatur als trans* gelesen werden können. Die Behauptung aus dem zu Beginn zitierten Kommentar, moderne Konzepte würden kritiklos auf das Mittelalter angewandt, ist also haltlos: Queer Studies und mittelalterliche Literatur sind keine Gegensätze, sondern bieten Raum für neue Perspektiven. Übrigens gab eine andere Person als Feedback zum Seminar, dass das Mittelalter diverser sein kann, als man denkt.

Wenn ihr jetzt Lust bekommen habt, euch damit weiter auseinanderzusetzen, findet ihr unten eine Lektüreliste und einige Social Media-Accounts, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Forschende bei Twitter:

Dr. Gabrielle M.W. Bychowski @Transliterature
Blake Gutt @chantermestuet
Alicia Spencer-Hall @aspencerhall
Dr Tim Wingard @TSWingard
Jes Battis @jesbattis
François·e Charmaille @Fcharmaille
Florian Remele @FlorianRemele

Weitere Literatur zum Thema:

Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York, London 1999.

Bychowski, Gabrielle M.W.: Trans Literature: Transgender Histories and Genres of Embodiment, Medieval and Post-Medieval, The George Washington University 2017.
Bynum, Caroline Walker: Jesus as mother: studies in the spirituality of the high middle ages Berkeley, 1982.
DeVun, Leah: The Shape of Sex. Nonbinary Gender from Genesis to the Renaissance, Columbia SC, USA 2021.

Henningsen, Kadin: ‘“Calling [herself] Eleanor”: Gender Labor and Becoming a Woman in the Rykener Case’, Medieval Feminist Forum, 55.1 (2019), 249-266; and M. W. Bychowski, ‘The Transgender Turn: The Archive’s View of Eleanor Rykener’, Transliterature: Things Transform, 1 July 2018, http://www.thingstransform.com/2018/04/the-transgender-turn-archives-view-of.html [accessed 23 June 2021].
Kraß, Andreas: Queer Studies – eine Einführung. In: Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Hg. von Andreas Kraß, Frankfurt a.M. 2003, S. 7-28.

Remele, Florian: Mann-männliches Begehren und Sexualverhalten in mittelhochdeutschen Texten. Zur Spannung zwischen Homosexualitätsgeschichte und Queer Reading, mit einer exemplarischen Analyse des Gürtels Dietrichs von der Glezze, in: Unerlaubte Gleichheit Homosexualität und mann-männliches Begehren in Kulturgeschichte und Kulturvergleich. Hg. von Michael Navratil und Florian Remele, Bielefeld 2021 (Edition Kulturwissenschaft 236), S. 43–80.

Sexon, Sophie: Gender-Querying Christ’s Wounds. A Non-Binary Interpretation of Christ’s Body in Late Medieval Imagery, In: Trans and Genderqueer Subjects in Medieval Hagiography, hg. von Alicia Spencer-Hall und Blake Gutt, Amsterdam 2021. S. 133–153.

Trans and Genderqueer Subjects in Medieval Hagiography, hg. von Alicia Spencer-Hall und Blake Gutt, Amsterdam 2021.

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