Einfach reingeschlittert

Im Internet gibt es nur wenig Berichte darüber, wie es ist, polyamourös zu sein. Wir haben also Menschen gefragt, ob sie uns ihre Coming Out-Geschichte erzählen wollen. Der heutige Text kommt von Lilly. Wenn du auch deine Geschichte erzählen willst, schreib uns an blog@queer-lexikon.net oder benutze unsere anonyme Askbox

Wie in so vieles in meinem Leben bin ich da einfach so reingeschlittert.

Ich befand mich mit meinem (mono)-Partner in einer ewiglangen Beziehung. Während ich immer wieder auszubrechen versuchte, Auslandsaufenthalte absolvierte, in Szene-Kneipen rumhing, mich tätowieren ließ, war für ihn klar: Er will ein Haus, Kinder, heiraten. Dass ich mich ausprobieren wollte, sprunghaft Hobbies wechselte und gelangweilt von seinen ewigen Spieleabenden war, nahm er großmütig hin und hielt weiter aus.

Ich lernte Hannah kennen. Hannah war in einer Beziehung mit einem nonbinary-Partner und polyamor. Sie zeigte mir, wie gut es funktionieren kann, mehrere romantische Beziehungen zu führen, wie harmonisch alle miteinander umgehen konnten. Ich traf Hannah immer häufiger und verliebte mich in sie.
Nach zahlreichen Gesprächen mit meinem Freund war klar, dass er sich auf das “Experiment poly” nicht einlassen wollte. Für ihn war es eine Phase, wie eben so vieles, was ich damals getan habe. Dass ich sein Lebenskonzept irgendwann teilen wollen würde, war in seinen Augen nur eine Frage der Zeit. Ich wusste: Ich passe nicht in sein Leben. Ich will das nicht, worauf er hinlebt, ich fühlte mich eingesperrt. Ich beendete die Beziehung und kam fest mit Hannah zusammen. Es war auf so vielen Ebenen neu, anders, fast erleuchtend – der Umgang aller beteiligten Personen war immer respektvoll, liebevoll. Es gab Szenen, in denen wir zu fünft händchenhaltend jede/r/s mit entsprechendem Partner die Straße runterliefen.
Nach einiger Zeit beendete Hannah auch die Beziehung mit mir. Sie war überzeugt, dass ich auch in das Konzept Polyamorie nicht passen würde, war überfordert damit, mich, die ich immer nur in sehr langen monogamen Beziehungen gelebt hatte, in ihre Art zu Lieben einzuführen.

Und hier bin ich jetzt, habe zwei wunderbare Beziehungen, lebe polyamor, kenne an meinem Wohnort diverse “Polys”, gehe monatlich zu einem Stammtisch und liebe die Entscheidung, die ich damals getroffen habe. Innerhalb kürzester Zeit habe ich mehr über mich und meine Bedürfnisse, über romantische Liebe und Kommunikation gelernt, als ich mir jemals erhofft habe. Klar, es gab fürchterliche Phasen – ich habe geweint, geflucht, gelitten, und vor allem: gezweifelt!
Aber endlich, endlich, endlich bin ich angekommen und fühle mich wohl mit den Menschen, mit denen ich mich umgebe. Ich bin nach langer Zeit wieder glücklich und zufrieden – besonders mit mir selbst.

Geoutet bin ich bisher bei nur sehr wenigen Menschen – bis auf eine Ausnahme ist auch für sie meine Polyamorie nur eine “Phase”. Sie denken, ich verwende das Label als Freifahrtschein zum Fremdgehen – wenn ich erzähle, dass all meine Beziehungspartner voneinander wissen, sind sie überrascht. Vermutlich habe ich den Nachteil, generell als jemand bekannt zu sein, der viel ausprobiert und sich selbst verwirklichen möchte. Trotzdem wünsche ich mir, dass Polyamorie gesellschaftliche Akzeptanz findet. Denn das ist nicht nur eine Phase – für mich ist es ein Sich-endlich-Finden, ein Ankommen in sich selbst. Und ich möchte nicht mehr zurück.

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