Kummerkastenantwort 304 – Bin ich wirklich ein (trans) Junge?
TW: Hier werden Dysphorie und depressive und suizidale Tendenzen erwähnt
Hallo liebes Queer-Lexikon,
Ich weiß nicht wie ich anfangen soll, aber ich weiß, dass das Thema mich so sehr belastet sodass der Wunsch in mir aufkommt nicht mehr leben zu wollen.Ich fang mal einfach an. Das erste Mal als ich bemerkt habe mich männlich zu fühlen (keine Ahnung wir ich es besser beschreiben soll) war kurz bevor meiner Pubetät (glaube so mit 11/12 obwohl ich mir nicht so sicher bin). Habe mir dabei nicht wirklich was gedacht schließlich muss nicht jedes Mädchen zwanghaft feminin sein (die Farbe rosa mögen, gerne Kleider tragen etc. Dieses typische Geschlechterrollenzeug unserer Gesellschaft) und nur weil ich Anfang der fünften Klasse ein Jacket ohne Ärmel (ich weiß nicht wie das heißt) und einen Hut tragen wollte. Die ersten Zeichen der Pubertät habe ich nicht wirklich wahrgenommen bis eine Freundin von mir gesagt hat, dass ich unbedingt einen BH tragen soll. Da ist mir das erste mal aufgefallen, dass sich mein Körper verändert. Begeistert war ich nicht und total eifersüchtig auf die Jungs, dass die sowas nicht brauchen und keine Brü… bekommen. Ebenfalls hatte ich eine scheiß Angst, das sich ein weiteres Körperteil meldet und mir zeigt, dass ich „eine Frau werde“. Meine Hüfte ist auch breiter geworden, was mir auch nicht gefallen hat und womit ich seit dem sie breiter geworden sind, meine größten Probleme habe. Sicherlich kennt ihr diese Bauch-weg-Unterhosen, die ich nur getragen habe (und immer noch ab und zu trage), damit meine Hüfte schmaler wird. Mit vierzehn in etwa entdeckte ich wattpad und nach einer kurzen Weile LGBTQ Geschichten. Ich habe das erstemal boyxboy Geschichten gelesen und war eifersüchtig auf sie, dass sie so sein konnten wie sie waren (Jungs und schwul sein, plump gesagt). Die Jahre darauf habe ich überwiegend nur noch solche Geschichten gelesen und angefangen zwanghaft Anzeichen zu finden, auf Frauen zu stehen, da ich mir unter keinen Umständen vorstellen konnte als MÄDCHEN mit einem Jungen zusammen zu sein. Obwohl ich in meinem Leben den ein und den anderen Jungen Attkativ fand und auch in diese verknallt war. Als Junge aber widerrum konnte ich es mir vorstellen mit Jungs sowie Mädchen in einer Beziehung zu sein. Zu dieser Zeit fing ich an selbst Geschichten zu schreiben. Meine Hauptcharaktere waren weiblich, stark, sahen in etwa so aus wie ich (blauäugig und blond) und hatten viele Charaktereigenschaften von mir. Während meiner Freizeit versteckte ich mich in diesem Fantasien, spielte die Hauptperson dieser Geschichten und Sponn in meinen Gedanken die Story weiter. Nach einer Zeit entwickelte ich die Nebencharaktere weiter (darunter auch männliche) und „bearbeitete“ sie in meinen Gedanken. Als ich einmal mit meinem Hund spazieren war, hab ich eine Geschichte in meinem Kopf angefangen, in dem es um einen Jungen ging (einen Engel um genau zu sein, schreibe nämlich hauptsächlich Fantasy), der blonde Haare und blaue Augen hatte. In irgendeiner Hinsicht mein männliches Abbild. Ich hatte eine Art Connection zu diesem Charakter, obwohl er nie nieder geschrieben worden ist. Kurz bevor ich fünfzehn wurde fing ich an männliche Charaktere aus Büchern oder aus meinen eigenen Büchern in meinen Gedanken zu sein und kreierte meine eigene Geschichte. Ich habe mich mehr mit diesen Jungen identifizieren können, als mit allen Mädchen in meinen Fantasien zuvor. Egal ob diese Charaktere mir äußerlich oder innerlich ähnlich sahen oder nicht. Vor allem Jungs, die femininer waren, blonde Haare und blaue Augen hatten und einen sinn für schwarzen Humor (ich in männlich einfach). Mit sechzehn kleidete ich mich femininer. Es hat sich angefühlt als wäre ich verkleidet, einfach nicht ich selbst. Ich versuchte zwanghaft mich in die Schublade lesbisch zu quätschen obwohl ich eigentlich wusste, dass dies nicht stimmte. In dieser Zeit fingen die Gedanken an: „wenn ich für den Rest meines Lebens eine Frau sein muss, dann möchte ich lieber nicht mehr existieren.“. Wenn ich diesen Gedanken hatte, hatte ich keine Lust mehr zu leben und ich dachte an berühmte Frauen und sagte mir „die schaffen das auch eine Frau sein und sein zu wollen, dann schaffst du das auch.“. Unter anderem hatte ich Eifersuchtsanfälle auf männliche Charaktere in Büchern oder Filmen. Ich wollte so sein wie sie. Sogar auf kleine Jungs, die nicht älter als fünf waren, war ich eifersüchtig. Kurz vor meinem siebzehnten Geburtstag hatte ich den geistesblitz: ich bin eine Junge. Als mir dieser Gedanke kam, waren meine Familie und ich im Urlaub und mir ging’s den ganzen Urlaub einfach nur schlecht. Hatte so gut wie nichts gegessen, was meinen Eltern auffiel. Als wir wieder zuhause waren, habe ich meine femininen Kleider ausgemistet und mir meine Haare kurz geschnitten. Meine Mutter war nicht begeistert und hatte einen Nervenzusammenbruch, weil ich eine „Jungenfrisur“ hatte (und bis heute etwa sechs Monate später habe). Aber als ich mich im Spiegel gesehen habe, habe ich mich erkannt. Dazu muss ich sagen, dass ich früher öfters vor dem Spiegel stand und mich betrachtet habe, versucht habe mich wieder zu erkennen, was auf Außenstehende arrogant vorkam. Ich habe mir meinen ersten Binder bestellt. Wenn ich ihn anhatte und ich dennoch eine Wölbung gesehen habe, wurde ich entweder agressiv, resigniert, ich versuchte so gut wiemöglich mit Klamotten diese Wölbungen zu kaschieren oder mir war einfach zu heulen zu mute (was bis heute anhält). Meine Eltern haben meine drastische Veränderung natürlich bemerkt, schließlich lief ich nach ihrer Aussage vor kurzer Zeit noch stolz in femininen Jumpsuits rum und jetzt trage ich Klamotten aus der Männerabteilung und sehe aus wie ein Junge. Immer wenn sie weibliche Pronomen verwenden oder meinem Namen sagen, habe ich das Gefühl sie machen das extra häufig, damit ich nicht vergesse, dass ich ein „Mädchen“ bin. Das nervt mich und macht mich manchmal wütend.
Jetzt aber zu meinem Anliegen. Das Einzige, was mich verwirrt und mich abhält zu glauben, ich wäre Trans, ist meine Kindheit. Zwar wollte ich lieber zu den Jungs gehören und mehr Jungs als Freunde haben (vor allem in der Zeit, als Jungs und Mädchen sich in zwei Gruppen teilten und nicht viel miteinander zu tun hatten, war zumindest bei uns so). Die Figuren aber in meinen Fantasien waren weiblich (soweit ich weiß). Ich weiß, dass ich damals unbedingt lange Haare wollte und nur eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen (soweit mir damals bekannt War) lange Haare hatte. Und zwar Mädchen. Dennoch Zweifel Ich, ob des nur eine Ausrede von mir selber ist und ich nicht nur die Mädchen sein wollte, weil sie lange Haare hatten. Schließlich gibt es Jungs da draußen, die lange Haare haben wollen ohne zu denken sie wären Mädchen.
Aber was wäre dann mit meiner Geschlechtsidentität? Wäre ich dann doch weiblich, obwohl ich mich überhaupt nicht so fühle ganz gleich wie viele feminine Eigenschaften ich besitze? Wäre ich nicht binär, obwohl ich mich männlich fühle?
Auf Wattpad habe ich Jasper, einen Agender gefunden, der viele Aspekte in seinem Weg beschreibt, die ich selbst erlebt habe oder noch erlebe. Aber ich fühle mich männlich, obwohl ich manchmal das Gefühl habe einfach nur ein Mensch zu sein.
Ich habe einen bestimmten Jungen im Kopf mit blauen Augen und blonden Haaren, etwas Fett auf den Knochen mit einem Sinn für Humor. Im Endeffekt eine jüngere Version von meinem Vater. Was ist, wenn dieses Bild nicht das Bild ist, als das ich mich selbst sehe? Ich einfach cis weiblich bin und einfach nur gerne männlich wäre?
Ich habe keine Antwort darauf und das macht mich fertig. Habe heute deswegen im Unterricht geweint, weil es mich verfolgt.
Ich weiß, dass ihr mir nicht sagen könnt welches Geschlecht ich nun habe, aber es wäre schön, wenn ihr eure Meinung dazu abgibt und sagt, was ihr vermutet.
Entschuldigt für den langen Text und für den falschen Satzbau.
Danke dafür, dass ihr euch die Mühe macht den Text zu lesen und darauf zu antworten.
Eure …. oder soll ich lieber euer Samuel sagen?
Hallo Samuel,
vielen Dank für deine Frage und dein Vertrauen in uns. Ich kann verstehen, dass dich dieses Thema sehr beschäftigt und belastet – es ist für die meisten Menschen nicht gerade einfach, ihr eigenes Geschlecht zu hinterfragen und zu erkennen.
Wie du schon selbst richtig sagst, kann ich dir leider nicht sagen, welches Geschlecht du hast, das kannst du nur selbst wissen. Aber ich kann dir versichern, dass an dir und deinem Geschlecht nichts Falsches ist und dass du auf jeden Fall vollkommen gut bist, so wie du empfindest.
Du machst dir Sorgen, dass du vielleicht nicht trans bist, weil du nicht schon als Kind wusstest oder dachtest, dass du ein Junge bist, und weil du dich oft als weibliche Charaktere in deinen Geschichten vorgestellt hast. Dazu kann ich erst einmal sagen: Es ist ein Mythos, dass alle trans Menschen schon seit frühester Kindheit wissen, welches Geschlecht sie haben und dass sie trans sind. Viele finden das in ihrer Pubertät heraus, andere aber auch erst Jahre oder Jahrzehnte später. Das kommt daher, dass einfach unser gesamtes Umfeld fast immer automatisch davon ausgeht, dass wir alle cis sind, also das Geschlecht haben, das uns bei der Geburt zugewiesen wurde. Die Gesellschaft hat einfach nicht wirklich Platz für Menschen, die nicht in diese fertigen Geschlechterboxen passen. Deswegen erkennen viele Menschen erst spät, was wirklich mit ihnen los ist – nämlich, dass sie trans sind – und sie versuchen, irgendwie anders damit umzugehen, dass sie sich anders, unpassend oder fremd in ihrem Körper und/oder mit den Menschen um sie herum fühlen. Was du beschreibst, klingt für mich sehr so, als hättest du früher Umgangsstrategien gesucht, bevor du wusstest, dass du trans bist, und die bestanden z.B. aus dem Versuch, dich femininer zu kleiden, um besser in deine Umgebung reinzupassen, und dir weibliche Charaktere vorzustellen, in denen du dich wiederfinden kannst.
Du schreibst ja aber auch selbst, dass du dich mit jedem männlichen Charakter mehr identifizieren kannst, unabhängig vom Charakter und dem Aussehen – für mich klingt das, mit vielen anderen Dingen, die du beschreibst, sehr so wie die Erfahrungen von einem trans Jungen.
Du hast selbst unzählige Male geschrieben, dass du dich männlich fühlst, dich selbst als männlich siehst, dich wohler fühlst, wenn du nach außen männlicher aussiehst usw. All das sagt mir, dass du höchstwahrscheinlich männlich bist. Dass du dabei Gemeinsamkeiten mit einer agender Person findest, kann zwar auch bedeuten, dass du vielleicht agender oder nichtbinär bist, aber das muss es nicht zwangsläufig. Nichtbinäre Menschen machen teilweise ähnliche Erfahrungen und haben ähnliche Gefühle wie trans Jungen und trans Mädchen; deshalb gehören auch die trans Community und die nichtbinäre Community eng zusammen und viele nichtbinäre Menschen bezeichnen sich auch als trans. Du schreibst ja aber selbst, dass du dich viel mehr als männlich empfindest als irgendein anderes Geschlecht – und wenn Männlichkeit für dich der wichtigste Bestandteil deines Geschlechts ist, dann kannst du dich gerne und guten Gewissens als trans Junge beschreiben.
Ich glaube, es könnte dir helfen, mit Menschen darüber zu reden, denen du vertraust – zum Beispiel engen Freund*innen, Familienmitgliedern, am besten auch einem*r Therapeut*in (falls du noch niemanden hast, dann findest du bei TransMann e.V. Adressen von trans-freundlichen Therapeut*innen). Vielleicht findest du auch bei dir vor Ort eine queere Jugendgruppe oder eine trans Gruppe oder Beratungsstelle. Mit Menschen über ein Thema reden, bei dem du selbst noch unsicher bist, kann gruselig sein, aber es hilft sehr oft dabei, mehr Klarheit zu verschaffen und weniger Ängste zu diesem Thema zu entwickeln. Dann kannst du z.B. auch ausprobieren, wie es sich anfühlt, als „er“, als Samuel und als Junge angesprochen zu werden, kannst Unterstützung von deinem Umfeld bekommen und vielleicht Wege finden, mit deiner Situation anders umzugehen und sie zu verbessern, wo du kannst.
Ich wünsche dir auf jeden Fall alles Gute mit all diesen Fragen und Themen und hoffe, du findest bald noch mehr Hilfe und Unterstützung in deiner engeren Umgebung.
Liebe Grüße,
Balthazar