Kummerkastenantwort 378: Was ist los mit meinem Geschlecht?

Passt vielleicht in die Kategorie Kummerkasten, der Text ist im nachhinein aber doch etwas lang geworden. Das ist ausserdem mein erster Beitrag hier.

Ich bin ich, aber ich verstecke mich dennoch irgendwie. Zu mir, bin 24 Jahre alt, als Mann geboren. So jetzt mag man denken, aha in die Richtung. Aber darum geht es ja dann bei meiner Frage irgendwie und irgendwie nicht. Ich hatte noch nie ein Problem wenn man mich auf der Arbeit als Fr. Soundso angesprochen hat, halt bis zu dem Moment wenn ich gefragt werde wie ich heiße, oder doch ein Bartansatz zu sehen war, dann folgte stets ne Entschuldigung von der jeweiligen Person, ich konnte nur drauf begegnen das es mir egal war, die Kunden sollten sich nicht fühlen als hätten Sie einen Fehler gemacht. Ich habe echt keine tiefe Stimme, liebe es zu zocken, auch halt in Multiplayern. Da kann es dann mal dazu kommen das ich für ein Mädchen gehalten werde, das macht mich halt aktl. und in anderen Situationen echt Happy, ich will die dann garnicht verbessern. Durch meinen Spielnamen ist es halt für beides passend, m. sowie w. . So kann ich dann halt ein Mädchen sein, klingt irgendwie komisch, fühlt sich aber echt gut an. Ich liebe meine beiden von meinen Eltern gegebenen Vornamen wirklich, die will ich auch nie ablegen, aber so ein „sanfterer“ zusätzlicher Vorname für meine andere Zeit wäre irgendwie echt schön. Dann gibt es aber, das kann nur ne Stunde später sein, mich, ein Mann. Auch dann fühlt sich alles richtig an. Beide Situationen beziehen sich auf das Empfinden was ich an mir mag und was ich für „Ziele verfolge“ , schwer zu erklären. Zu gern würde ich in den Situationen meinen look verändern, ich bin echt kein Modebessener Mensch, eher habe ich Sachen tatsächlich längere Zeit. Aber da geht es um zb. Hemd langärmlig tragen und halt ein wirklich ein pragmatischer aber anständiger look als ich(mann), und ein eher cute angelehnter oder offener look als die andere Version. Schon daran gibt es für mich Probleme, ich habe das Gefühl eine Rolle erfüllen zu müssen. Wenn ich plötzlich etwas anders machen würde, glaubt dann meine Familie das mein „ursprüngliches“ ich verloren zu haben??, obwohl ich doch denke mich eigentlich nie verändert zu haben sondern eher zurückgehalten / oder einfach lange Zeit angepasst habe. Akzeptieren kann ich mich deshalb irgendwie nicht. Es fühlt tatsächlich sehr befreiend an das zu schreiben, aber mache ich mir grad nur irgendwas vor?? Ich hab halt wirklich sehr lange über mich nachgedacht. Wer bin ich? Das versuche ich mir grade selbst zu beantworten, und hoffe auf ein paar Wörter, wer auch immer das hier liest und mir weiterhelfen mag.
Lieben Gruß

Sry für den langen Text

Hallo du,

danke für deine Frage! Erst einmal möchte ich dir sagen: Die Frage „mache ich mir das nur vor?“ bekommen wir hier sehr oft – viele Leute, die sich mit ihrem eigenen Geschlecht beschäftigen, fragen sich früher oder später, ob sie sich das alles nur einbilden. Das ist aber wirklich selten der Fall. Vielleicht interessiert dich unser neuer Blogpost zum Queeren Imposter-Syndrom – da versuchen wir zu erklären, woher solche Fragen und Zweifel kommen.

Was du beschreibst, gibt es auf jeden Fall und es gibt super viele Leute, die so oder so ähnlich empfinden. Es gibt auch verschiedene Begriffe, die diese Leute benutzen, um sich zu beschreiben. Ob du einen oder mehrere davon benutzen möchtest und wenn ja, welche, bleibt ganz dir überlassen.

Bigender

Du schreibst davon, dass es dich in verschiedenen „Versionen“ gibt, die mal männlicher, mal weiblicher sind. Für diese Art von Geschlechtsidentität gibt es den Begriff „bigender„. Als bigender bezeichnen sich Menschen, die zwei Geschlechter haben, z.B. männlich und weiblich. Diese Geschlechter können beide gleichzeitig da sein oder auch abwechselnd auftreten. Das heißt, Menschen, die bigender sind, können manchmal weiblich und manchmal männlich sein. Sie sind aber auf jeden Fall immer (und in allen „Versionen“) ganz sie selbst.

Genderfluid

Als genderfluid bezeichnen sich Menschen, deren Geschlecht sich manchmal ändert. Diese Änderung kann täglich, stündlich oder auch nur ein paar Mal im Leben passieren – es gibt keine ‚Regeln‘, wie oft, wann oder unter welchen Umständen sich das Geschlecht ändert. Du hast geschrieben, dass sich dein Geschlecht manchmal innerhalb einer Stunde ändern kann. Vielleicht findest du dich ja im Begriff genderfluid wieder.

Genderqueer

Ganz am Anfang hast du geschrieben, „Ich bin ich“. Das scheint dir sehr wichtig zu sein – du musst dich nicht kategorisieren oder dein Geschlecht bzw. deine wechselnden Geschlechter irgendwie benennen, wenn du das nicht möchtest. Nur, weil es Begriffe gibt, die vielleicht auf dich passen, heißt das nicht, dass du die benutzen oder dich in neue Schubladen stecken lassen musst. Falls du trotzdem ein einfaches Wort suchst, um zu beschreiben, dass du keine Lust auf Schubladen hast und einfach nur du selbst sein möchtest, gibt es dafür auch das Wort genderqueer. Leute, die sich so beschreiben, haben oft keine Lust auf beengende Boxen, die alles in „männlich“ und „weiblich“ aufdröseln und einkategorisieren. Das Wort „queer“ da drin soll ausdrücken, dass sie gegen die gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen von „männlich“ und/oder „weiblich“ verstoßen und lieber sie selbst sein wollen, statt sich irgendwie anzupassen.

Und jetzt?

Es ist auf jeden Fall vollkommen okay, wenn es dir nicht leicht fällt, über diese Themen zu sprechen oder offen zu dir selbst zu stehen. In unserer Gesellschaft wird es Leuten, die nicht so einfach in eine der zwei Kategorien „männlich“ und „weiblich“ passen, nicht gerade leicht gemacht, ehrlich und offen zu sein. Was helfen kann, ist: Sich Unterstützung suchen. Das kann z.B. im Freundeskreis und/oder in der Familie sein, oder auch bei anderen Leuten, die ähnliche Erfahrungen machen wie du. Solche Menschen kannst du z.B. bei Stammtischen, Unigruppen, in queeren Zentren und Beratungsstellen (zur Zeit das meiste auch online) kennenlernen, oder auch über Social Media und Chatgruppen (bei Discord, WhatsApp oder Facebook z.B.).

Und wenn du so was wie neue Klamotten oder einen weiteren Namen ausprobieren möchtest, dann kannst du das selbstverständlich auch machen. Wichtig dabei ist, dass du herausfindest, was für dich funktioniert und womit du dich wohl fühlst – du musst auf jeden Fall keine Rolle erfüllen. Bei Klamotten kann es z.B. helfen, dich in der Öffentlichkeit oder in Filmen und Serien umzuschauen, welche Klamotten dir an anderen Leuten gefallen und ob du dir das auch an dir selbst vorstellen kannst. Vielleicht gibt es ja auch in deinem Umfeld eine Person, deren Klamotten du mal ausleihen kannst oder die du zum Shoppen mitnehmen kannst. Auf jeden Fall darfst du dir Zeit lassen; es ist okay, wenn es ein bisschen dauert, bis du deinen Stil findest. Zu so einem Prozess kann es auch immer dazugehören, Dinge auszuprobieren, die sich später als nicht passend herausstellen. Das ist voll okay. Du musst nicht auf Anhieb genau das richtige Outfit für jeden Tag und genau den perfekten Namen für dich finden. Durch ausprobieren kannst du dich nach und nach daran herantasten, was für dich am besten funktioniert.

Ich wünsche dir dafür alles Gute und hoffe, du findest Worte, Klamotten und Namen, die dich glücklich machen! Wenn du weitere Fragen hast, kannst du dich gern jederzeit wieder an uns wenden.

Liebe Grüße,
Balthazar

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