Kummerkastenantwort 1.107: Bin ich wirklich lesbisch?

Hallo. Ich bin weiblich, 16 Jahre alt und bin auf diesem Forum, weil mir ein bestimmtes Thema schon so lange durch den Kopf geht und ich gerne andere Meinungen dazu hören würde. Es geht um meine Sexualität. Ich bin in einem ziemlich homophoben Dorf aufgewachsen und wusste Jahre lang gar nicht, dass es sowas wie ‘Queere Menschen’ gibt. Wenn man hier zwei küssende Menschen des gleichen Geschlechts sah, wurde es gleich als komisch und unnormal bezeichnet, es wurde einfach immer deutlich gemacht, dass es nicht normal ist. Erst Jahre später habe ich durch das Internet sehr viel über das Thema ‘LGBTQ+’ gelernt, eigentlich nur dadurch, da die Schulen & generell die Gesellschafft wirklich versagt, was die “Aufklärung” über die verschiedenen Sexualitäten und das es ganz normal ist egal wen man liebt, angeht. Anfangs war mir das alles noch fremd, ich war zwar schon immer von Frauen fasziniert und wollte wie sie sein, aber mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass ich mit ihnen zusammen sein wolle oder gar könnte – ich wusste ja nicht Mal das sowas überhaupt geht. Zum ersten Mal so richtig über das Thema lesbisch sein hab ich nachgedacht, als ich feststellte, dass ich meine Fußballtrainerin (30) SEHR toll fand und mir auch manchmal vorgestellt habe wie es wäre sie zu küssen, ich habe diese Gedanken aber immer sehr schnell verdrängt und mich richtig geschämt – jemandem gesagt hätte & habe ich es auch nie. Zuerst war ich richtig angeekelt von mir selbst, ich dachte es ist irgendetwas falsch mit mir, sowas wäre doch nicht richtig, vor allem weil sie eine Frau und viel älter als ich ist…

Mittlerweile sind mehr als 2 Jahre vergangen, ich weiß bis heute nicht ob ich wirklich etwas in meine Fußballtrainerin verknallt war oder ob es einfach nur Bewunderung war, die ich falsch interpretiert hatte. Jedoch habe ich mich in den letzten Jahren ziemlich viel mit meiner Sexualität auseinander gesetzt. Zuerst wollte ich es verdrängen, hätte ich alles getan um “normal” zu sein, aber mittlerweile weiß ich zum Glück, dass es absolut nichts schlimmes ist sondern einfach nur Liebe, etwas sehr sehr schönes!

Ich würde mich eigentlich selbst als lesbisch bezeichnen und bin auch so unendlich stolz drauf wie ich bin, aber es gibt da einige Probleme:
– Ich bin mir zwar eigentlich fast sicher, dass ich lesbisch sein könnte, aber manchmal überkommen mich dann doch die Zweifel. Was wenn ich das alles nur für Aufmerksamkeit mache? Weil ich anders sein will? Weil ich einfach gerne zu dieser Community gehören würde, weil es ‚cool‘ ist?

– Aber andererseits will ich auch absolut keinen Freund haben. Der Gedanke von einem Jungen/Mann geküsst zu werden fühlt sich irgendwie nicht so gut an. Ich habe zwar noch nie jemanden geküsst, aber ich hab einfach den Gedankengang bzw. so ein Gefühl. Wenn ich an meine Hochzeit denke, stelle ich mir eine Frau vor – keine bestimmte, aber ich weiß das die Person neben mir weiblich ist. Einen Mann kann ich mir irgendwie nicht oder nur schwer vorstellen (Ich kann mir aber generell solche Szenarien schwer bildlich vorstellen, da ich ‘Aphantasie’ habe). Ich fühl mich aber bei dem Gedanken an Frauen meistens viel wohler, ich stell es mir viel schöner vor – einfach alles.

Aber was wenn ich mir das alles nur einrede? Woher soll ich wissen, dass ich auf Frauen stehe, wenn ich noch nie richtig verliebt war (Argument meiner Mom…), aber andererseits woher sollte ich dann wissen, dass ich auf Jungs stehe?! Warum gilt so ein dummer Spruch nur wenn man homosexuell ist und nicht auch bei heterosexuellen Menschen, woher sollen die denn wissen, dass sie hetero sind, wenn sie noch nie das gleiche Geschlecht geküsst haben?!

– Ich fühl mich einfach so viel Verbundener zu Menschen die auch Part der LGBTQ+ Community sind. Auch wenn ich die Person gar nicht kenne, kommt es mir so vor als würde die Person gleich 20 Pluspunkte an Sympathie bei mir bekommen, allein für den Fakt das sie auch Queer ist. Oft sehe ich schöne Männer/Jungen in Filmen oder Serien und die schaue ich auch gerne an, weil sie halt einfach schon schön sind, aber wenn ich dann dran denke ob ich mit ihnen zusammen sein wollen würde, schaltet mein Gehirn gleich wieder ab und sagt “Nein danke, eher nicht!” Ich denke mir meistens eher, “Oh mit dem wäre ich gerne befreundet”. Oder wenn ich Schauspieler google und dann herausfinde, dass sie Queer sind mag ich sie gleich viel mehr. Ich bin dann immer richtig froh und freue mich. Ich weiß echt nicht ob das komisch ist oder normal, ist das überhaupt ok, wenn man Leute nur aufgrund der Sexualität sympathischer oder cooler findet? (es ist aber nicht so, dass ich heteros deshalb weniger mag, nein, ich fühl mich einfach direkt verbunden zu queeren Menschen)

– Ich schau mir auch sehr gerne LGBTQ+ Filme an, lese Bücher oder beschäftige mich generell ziemlich gerne damit. Mittlerweile finde ich LGBTQ+ Paare irgendwie viel „normaler“ als heteros und irgendwie mag ich LGBTQ+ Filme & Paare auch viel mehr, irgendwie kann ich mehr damit anfangen, ich weiß auch nicht. Die meisten Hetero Beziehungen langweilen mich einfach oder interessieren mich gar nicht so.

– Ich habe einfach Angst davor, dass ich mich verrenne und am Ende doch einen Mann heiraten werde und dann hatten die intoleranten Leute recht: es war wirklich nur eine Phase, keiner nimmt mich mehr ernst, weil ich komisch bin oder krampfhaft versuche anders zu sein und Aufmerksamkeit zu bekommen. Einerseits bin ich mir eben sicher, dass ich lesbisch bin, ich habe absolut kein Interesse an Jungs, als Freunde ja – aber mehr nicht. Aber diese kleine Funken von Unschlüssigkeit der mich verfolgt, macht mich wirklich fertig. Ich will mich nicht in irgendetwas verrennen und ich will auch nicht, dass es nur eine dumme Phase ist, wie manche Menschen sagen…deshalb hab ich auch zu meinen Eltern gesagt, dass ich glaube das ich bisexuell bin, damit mir das nicht vorgehalten wird, wenn ich mir wirklich was vormache, wenn ich mich wirklich nur in irgendetwas verrenne. Ich finde Frauen einfach ✨toll✨ aber reicht das? Findet nicht jedes Mädchen andere Frauen irgendwie toll? Es ist alles schrecklich kompliziert & verwirrend.

– Die Vorstellung mit einem Mann zusammen zu sein macht mich einfach irgendwie unglücklich. Ich fühlt sich wie etwas an das ich nicht will und ich hab echt fast “Angst” davor, dass ich mich verrenne und doch nicht lesbisch bin und am Ende doch einen Mann heiraten werde…oh wow wie dumm sich das alles anhört, ist ja nicht so als ob mich jemand zwingen würde unbedingt einen Mann zu heiraten, aber das Gefühl ist halt dennoch da. Aber was, wenn ich mir das nur einrede für Aufmerksamkeit (ich meine es weiß bis jetzt eh kaum jemand aber trotzdem) ich würde es einfach gerne anderen Menschen erzählen, darauf stolz sein, darüber reden wie zb Freundinnen ständig über Jungs reden (womit ich nie etwas anfangen konnte – jetzt weiß ich den Grund vielleicht) und ich beschäftige mich einfach gerne mit dem ganzem Thema, der Diskriminierung und was man dagegen tun kann, wie man für mehr Toleranz sorgt etc. – liegt das daran, dass ich einfach nur Aufmerksamkeit oder Bewunderung will, dass ich einfach nicht “normal” sein will? Ich will wirklich nicht “normal” sein: nicht so verklemmt, intolerant und langweilig wie viele in meinem Dorf. Rede ich mir deshalb vielleicht etwas ein? Aber andererseits macht mich der Gedanke, dass ich auf Frauen stehe glücklich, ich weiß nicht wieso. Ich will wirklich sehr gerne lesbisch sein, damit ich mit Frauen zusammen sein kann…Und da ist wieder das Problem! Rede ich mir es nur ein, weil ich es gerne wäre oder bin ich es wirklich, lasse mich aber nur von der Gesellschaft und der Heteronormativität verwirren?
Ich hab einfach Angst mich in irgendetwas zu verrennen und am Ende zu merken, dass ich doch straight bin… deshalb habe ich auch Angst mich zu outen, wenn ich am Ende doch einen Mann heirate (was ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht möchte) glaubt mir keiner mehr, die Leute hier verurteilen einen sowieso schon für alles, ich will sie in ihren dummen Aussagen “Nur eine Phase!” nicht auch noch bestätigen. Man kann doch nicht lesbisch sein und dann auf einmal nach ein paar Jahren straight? Oder doch? Hilfe, es ist alles so kompliziert.
Ich WILL einfach auf Frauen stehen, weil Frauen toll sind und ich eine Frau heiraten möchte…aber die Gesellschaft hat mich so verunsichert. Ich hab Angst in Wahrheit hetero zu sein und mir alles nur einzureden und dann fühle ich mich schlecht – straight Frauen die sagen ‘sie wünschten sie wären lesbisch’ sind doch echt ein no go – und so will ich nicht sein…

Fazit: Es tut mir leid, dass ich so einen langen und verwirrenden Text geschrieben habe. Meine Gedanken schwirren kreuz und quer durch meinen Kopf, es ist mitten in der Nacht und das Thema beschäftigt mich wieder Mal. Ich wünschte ich könnte alle meine Gedanken aufschreiben, mich noch mehr & besser ausdrücken, aber das geht nun mal nicht. Ich hoffe dennoch, dass irgendjemand von euch einen kleinen Ratschlag für mich hat. Ich weiß, dass ich wahrscheinlich die einzige bin die alle meine Fragen jemals wirklich beantworten kann, aber vielleicht kann mir trotzdem jemand etwas weiterhelfen, mir sagen, ob solche Gedanken normal sind und so weiter…

Vielen Dank.

Hallo!

Ich kann deine Zweifel und Fragen sehr gut nachvollziehen und würde auch sagen: Das ist völlig normal und du bist damit nicht alleine. Dass dich das Thema so beschäftigt und du dir seit Jahren diese Fragen stellst, zeigt für mich, dass du vermutlich schon lesbisch bist (oder zumindest nicht heterosexuell) – sonst würde dich das Thema so nicht stressen. Und wie du schon selbst sagst: Du fühlst dich Menschen aus der Community verbundener – auch das ist ganz normal 🙂 Und noch etwas: Heterosexuelle Frauen finden andere Frauen vielleicht nett, vielleicht auch hübsch – aber sie stellen sich normalerweise nicht vor, ihr Leben mit einer Frau zu verbringen, eine Frau zu heiraten, eine Frau zu küssen usw.

Ich würde dir empfehlen, dir mal unseren Text zum Queeren Imposter-Syndrom anzuschauen – vielleicht findest du dich da ja wieder? Solltest du gut englisch sprechen, könntest du dir vielleicht auch noch dieses Video anschauen – ich glaube, das könnte hilfreich für dich sein. Du bist außerdem sehr herzlich in unserem Regenbogenchat willkommen – ich glaube, Austausch mit anderen queeren jungen Menschen könnte dir gut tun.

Außerdem noch ein paar Worte zu dieser Frage danach, ob das eine Phase ist: Vermutlich nicht. Und wenn du doch irgendwann feststellen solltest, dass ein anderes Label doch besser zu dir passt, dann verwendest du eben das. Das ist keine Schwäche – im Gegenteil! Das bedeutet, dass du dich selbst reflektierst, über dich selbst nachdenkst und Änderungen machst, damit es dir gut geht. Das zeugt tatsächlich von einem starken Charakter.

Ich wünsche dir alles Gute!

Liebe Grüße,

Annika

Das könnte dich auch interessieren …

Entdecke mehr von Queer Lexikon

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen