Kummerkastenantwort 3.520: Ist nicht eigentlich die große Mehrheit der Menschen polyam?
Liebes Queerlexikon,
ich hoffe meine Frage ist nicht zu naiv, denn ich kenne mich leider nicht gut mit dem Thema aus.
Ich habe mich gefragt, ob nicht die große Mehrheit der Menschen eigentlich polyamourös ist.
Denn ich kann mir kaum vorstellen, dass es tatsächlich Personen gibt, die sich, auch wenn sie in einer Beziehung sind, niemals in andere Personen verlieben.
Sind die Personen, die sich selbst als poly bezeichnen, dann nicht nur diejenigen, die dieses Phänomen auch als solches bennennen und sich trauen, dieses entgegen der gesellschaftlichen Vorstellung einer monogamen Beziehung, auch auszuleben?
Ich persönlich habe mich bisher nicht als polyamourös betrachtet, aber obwohl ich seit über 6 Jahren in einer festen Beziehung lebe, habe ich mich in letzter Zeit immer wieder auch in andere Personen verliebt. Es ist irgendwie schade, dass ich an meiner bestehenden Beziehung nur festhalten kann, indem ich diese andere Verliebtheit unterdrücke.
Und dabei ist doch gerade das mit ein Grundgedanke der Queerness, dass jede Art der Verliebtheit wertvoll und besonders ist und es verdient, gelebt werden zu dürfen.
Irgendwie ist die gesellschaftliche Erwartung, dass jeder Mensch nur eine feste Partnerperson haben soll/darf da doch sehr einschränkend.
Oder suche ich mir gerade nur Ausreden, um mein permanentes gedankliches Fremdgehen zu rechtfertigen?
Hallo,
Ich würde gerne erstmal unterscheiden zwischen dem spezifischen Label ‘polyamor’ und den spezifischen Formen von Beziehungen, Subkultur etc. was sich darum herausgebildet hat und Nicht-Monogamie, also das Leben in nicht-monogamen Beziehungen. Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Menschen oder alle Menschen polyam sind. Es gibt viele Menschen, die sich nur in einer Person auf einmal verlieben und für die monogame Beziehungen funktionieren.
Das heißt nicht, dass es keine polyam Menschen gibt, sondern nur dass das eine spezifische Gruppe von Menschen sind.
Für mich klingt es aber so, als würde es dir gut tun, dich mehr mit der polyam Community zu beschäftigen und zu versuchen, eine Form von Beziehung zu leben, in der du dich nicht schlecht fühlen musst, wenn du Gefühle für eine andere Person entwickelst. Ich glaube nämlich nicht, dass du Rechtfertigungen suchst, um dein “permanentes gedankliches Fremdgehen” zu legitimieren, sondern einen Weg suchst, um so leben zu können, wie du das eigentlich möchtest.
Ich würde dir nämlich auch widersprechen – ich glaube nicht, dass Queersein heißt, dass jede Form von Verliebtsein automatisch Schutz und Respekt und Anerkennung verdienen muss – z.B. weil wir hier noch deutlich über Machtunterschiede, Minderjährigkeit, Konsent etc. nachdenken müssen.
Liebe Grüße,
Annika