Kummerkastenantwort 987: Ich will in einer genderfreien Welt leben.
Dude, habe den Test von testedich.com gemacht, wo als Ergebnis Unsicherheit herauskam – so. Im Ergebnis stand dann diese E-Mail und ich dachte mir: Joa, Wege/Hilfe/Beratung/Inspiration suche ich zu dem Thema sowieso, also wenn sich schon eines (ich verwende das generische Neutrum, dann gibt’s nirgendwo Ärger in meinem Umfeld, weil sich niemand ausgegrenzt fühlt) freiwillig anbietet, warum nicht fragen, kann ja sonst keinen einweihen: Folgendes Problem also: Mir hängt das ganze Geschechtergetue zum Halse heraus und ich würde am liebsten in einer genderfreien Welt leben, dumm nur: Es macht keiner mit. Toll. Relativ überall, wo man hin kommt, wird man direkt eingeteilt und bekommt dann eine speziell darauf zugeschnittene Behandlung und Einweisung, manchmal eben auch Verwehrung – super. Dabei wollen wir doch Antidiskriminierung, Akzeptanz, Egalität. Mir ist es im Wesentlichen scheißegal, was für ein Gender ich habe, es würde mich genauso wenig jucken wie die Existenz Gottes, wäre da nicht diese rückständige Gesellschaft – ich habe so ziemlich NIEMANDEN getroffen, der nicht in irgendeiner Weise Gleichheit/Gleichbehandlung bewahrt hat… Also am Liebsten würde ich einfach leben, wie ich will, ohne Rollendruck, blöde Kommentare, Verwehrung, Ausgrenzung. Allerdings geht der ganze Kram nicht so einfach und es ist wahrscheinlich notwendig, sich für außen jetzt irgendeine nette Fassade zu überlegen, damit man nicht allzu große Nachteile im Leben erhält, das sehe selbst ich gebrochenes Romantiker*in, Zyniker*in, realitätsgekränktes Träumer*in ein…
Mit Zuteilungen habe ich mir jetzt auch was angestaut; habe sozusagen versucht, das vom Körper abweichende Geschlecht auch mal auszuprobieren, aufgrund anderer Lebensprobleme aber habe ich extreme Probleme mit Entscheidungen, gleichzeitig bin ich auch extrem auf Gerechtigkeit bedacht und habe da schon so meine heiligen Krämpfchen im Geschäft erlebt, als es auf einmal hieß: Frauen diese Etage, Männer diese – toll, wo gehste hin? Letztendlich habe ich es nicht fertig gebracht, in dem Kaufhaus noch was zu kaufen und war müde zuhause zusammengesunken, zusätzlich noch z allgemeinen Stress und Reizüberflutung und Entscheidungen, die man sowieso erlebt, wenn man einkaufen muss (Ich tue es auch nur, wenn ich wirklich was Neues BRAUCHE, denn den Stress und die Zeit kann ich wirklich woanders gebrauchen.). So. Problem ungelöst, jetzt habe ich trotzdem keine Jacke, super.
Es wäre auch einfach nicht fair gewesen.
So schweife ich langsam immer mehr dahin, einfach auch mein Leben nicht auf die Reihe zu kriegen, wegen solchen Kleinigkeiten…
Was ich „bin“, weiß ich schon gar nicht, höchstens, was ich wollen würde, denn schließlich kann man sein eigenes Buch absolut neu/anders schreiben, wenn man wollte, der Wille ist schließlich frei und der Mensch zur Freiheit verurteilt (Sartre), zumal Existenz nicht bewiesen werden kann, aber um nicht zu sehr in die Philosophie abzuschweifen…
Aber wenn ich mich jetzt ganz ohne Konsequenzen in irgendein Gender einteilen sollte, ich hätte dagegen große Vorbehalte, einfach wegen dem ganzen Stress und Ärger, den ich damit schon hatte, unabhängig davon, was mir persönlich so jetzt an Rolle und Lebensstil eher zusagt, und ich hatte schon relativ viel Ärger mit dem ganzen Kram und will am Liebsten auch einfach gar nichts mehr damit zu tun haben! Blöd nur, dass das nicht geht, denn es kommt über einen wie ein Damoklesschwert! 😠 Und irgendwann überfällt es einen dann doch wieder! Ich könnte jetzt auch spontan nur antworten auf „Was bist du?“ „Ich bin einfach ich. Fertig. Aus.“ Welches Pronomen hast du? „Scheiße, jetzt geht das schon wieder los!“ „Wie heißt du?“ „Oh neeeeeeeiiiiiiiiiinnnnnnn!!!!!!! Biiiiittttteeeee nnnnniiiiicccchhhhtttt! [(nick-)name-placeholder]!“ „Tut mir leid, du musst deinen echten Namen verwenden, mit dem du gerne angesprochen werden würdest!“ Ich verlasse prompt einfach die ganze Veranstaltung.
Allgemein dachte ich mich vielleicht zu nicht-binär einteilen zu können, (diskutieren/debattieren ist immer nett), allerdings bin ich wie gesagt total schlecht im Entscheiden und bange darum, was die richtige Entscheidung bezüglich Namen hauptsächlich, danach dann wieder Umkleidekabinen, Toiletten, danach dann wieder soziale Rolle, Freundeskreis wäre – ich habe dermaßen Angst, irgendeinen Fehler mit dem Namen zu machen (Ansehen von Namen, welcher soll es sein????; Änderung oder nicht? Wo? Was würde ich später wollen? Mist! Das geht nicht! Ich kann die Zukunft nicht vorausberechnen! Mist!) und wenn ich ihn jetzt so lassen würde, würde ich wieder beim Ausgangsgeschlecht landen und das wäre eben dann wieder unerwünscht. Ein Dilemma und eine Zwickmühle also!
Aber welches Visionär*in hat das nicht erlebt? Die Enttäuschung ist groß, wenn leider anscheinend keines die Welt verbessern will, die Umstände akzeptiert, sie reproduziert,…
Galilei hatte extremen Stress mit der Inquisition und heute haben wir sein Weltbild… Veränderung braucht Zeit…
Oder ob ich einfach alles beim Alten belassen sollte und das Thema einfach ignorieren sollte und trotzdem innerhalb meiner vorgeschriebenen Bandbreite interagieren sollte, womit ich dann nichts verbessern würde oder eben das komplette Gegenteil allem Umständen zum Trotze, um die harten Mauern der Trennung zu verweichlichen? Ich weiß es nicht, ich weiß es verdammt nochmal nicht! Ich weiß generell wenig… 😔 Das klärt zwar nicht die Frage nach dem Sein oder nicht Sein, diese schiebe ich ja aber dennoch auf beziehungsweise halte sie für irrelevant und überflüssig, da innerhalb diese Logik ja frei definiert werden kann, zu sein, und eben entschieden, zumal sie eben wesentlich unnütz ist, weil sich sowieso nur ein Modell zum Leben gesucht werden muss und diese Frage keine materiellen Nöte bestimmt, sofern man sie nicht so definiert, und es ließe sich wirklich noch viel umdefinieren, wäre da nicht die unendliche Dummheit und Einspurigkeit der Menschen, die beschränkte Psyche, deren Potenzial nicht minder ausgeschöpft ist, die mit Nervenbahnen wie durch das Wunder eines Schöpfers den Zeigefinger erheben lässt: „Das geht aber nicht!“; noch jene nach dem Präferenzen; diese ersetzte ich ja aber durch den Wunsch, mich für die Welt und ihre Leiden mit meinem ganzen Leben einzusetzen, womit sich diese Frage ebenfalls erübrigt, wäre da nicht das Argument, in erster Linie dann doch den Egoismus walten zu lassen…
Viel Lebensglück und -freude noch weiterhin!
Hallo du,
uff, ich verstehe deinen Frust total. Ist halt echt kacke, dass wir in einer binären Gesellschaft leben, in der alles zweigeteilt wird in Männer und Frauen, wo wir alle zwanghaft in eine der beiden Kisten geschoben werden. Könnte eins jetzt dran verzweifeln, aber das löst ja leider auch nix.
Ich sehe da zwei Möglichkeiten:
- Gleichgesinnte finden. Es ist alles wesentlich einfacher zu ertragen, wenn es nicht mit einem Gefühl von kompletter Hilflosigkeit und Isolation kommt. Mir persönlich hat es enorm geholfen, mich mit anderen Leuten zusammenzutun, die über dieses furchtbare Geschlechtersystem genauso gefrustet sind wie ich. Mit solchen Leuten kann ich mich ausmotzen, kann aber auch mal herzlich über die Absurdität von dem allem lachen. Und vor allem lassen sich gemeinsam viel besser Pläne entwickeln, wie das alles besser funktionieren kann. Gleichgesinnte finden ist vor allem dann hilfreich, wenn es direkt mit etwas verbunden ist, was für dich als Strategie funktioniert. Vielleicht sind ja Parties dein Ding (vielleicht nicht grade jetzt, aber dann, wenn sie wieder erlaubt sind) – einen Abend lang den Frust wegtanzen, zusammen mit anderen Menschen, die diese Kategorien genauso scheiße finden wie du. Vielleicht suchst du ja eher nach Gesprächen – da gibt es Jugendgruppen, Stammtische, Online-Spaces. Vielleicht willst du direkt selbst aktiv werden, in einer Hochschulgruppe, einem Komitee, einem Verein, deinem lokalen CSD, usw. Mal ein bisschen auf den Tisch hauen, Leuten Feuer unterm Hintern machen, solche Sachen. Alles davon können gute Methoden sein, um Frust abzubauen und in etwas Positives zu verwandeln.
- Perspektive bewahren. Wie du selbst sagst: Dinge verändern sich mit der Zeit. Diese geschlechtliche Zweiteilung hat es nicht schon immer und überall gegeben, die ist von Menschen gemacht, und sie kann auch von Menschen wieder umgekrempelt werden. Namen und Pronomen, Einträge im Pass, das alles ist nichts für die Ewigkeit, sondern das sind einfach nur Wörter und Stücke Papier, die nur genauso viel Bedeutung haben, wie wir ihm beimessen. Ich kenne massig viele Leute, die auf ihrem Pass einen Namen stehen haben, den sie im Alltag nie benutzen. Kenne Leute, die ihren Namen ständig wechseln, je nachdem, was gerade passt. Kenne Leute, die in verschiedenen Kreisen verschiedenste Namen benutzen. Ein Name ist kein Vertrag – du darfst jeden beliebigen Namen nennen und darauf bestehen, so angesprochen zu werden. Und diese schulterzuckende Haltung darfst du auch anderen gegenüberbringen. Auf einem Schild steht “Frauenabteilung” oder “Männerklo”? Diese Begriffe müssen keinerlei Bedeutung haben für dich, wenn du ihnen keine beimisst. Das ganze Kaufhaus und jede einzelne Toilette ist für dich, wenn du dich Schildern und Symbolen verweigerst. Eine Welt, die dich nicht ernst nimmt, musst du auch nicht ernst nehmen.
Du musst die Zukunft nicht voraussehen. Du musst auch die Welt nicht komplett ändern – das ist keine Aufgabe für eine Person in einer Lebenszeit. Du bist für dich verantwortlich, und du musst nicht immer herausfinden, was richtig oder wahr ist, sondern darfst dich auch manchmal einfach fragen: Was ist für mich, jetzt gerade, nützlich? Dieser Name, dieses Kleidungsstück? Diese Verwirrung, die ich mit beidem stiften kann? Dieses Glücksgefühl, das ich empfinde, wenn ich dies oder jenes tue?
Ich bin mir sicher, du wirst einen guten Umgang mit alldem finden. Dafür wünsche ich dir alles Gute.
Viele Grüße,
Balthazar