Kann ich von „Awakening“ sprechen, wenn nie etwas erwacht ist? Oder: Wie ich herausgefunden habe, dass ich aroace bin
Dieser Artikel ist ein Gastbeitrag anlässlich der Aromantic Spectrum Awareness Week und kommt von Anni, auf Twitter zu finden unter @acearovolution. Danke dafür!
Als sexual awakening wird der Moment oder Prozess bezeichnet, in dem Personen zum ersten Malein „euphorisches Gefühl und einen Wunsch verspüren, körperlich intim mit einer anderen Personzu sein.“1 Es ist der Moment oder Prozess, in dem eine Person feststellt, dass sie sexuelle Anziehung zu einer anderen Person oder einer Gruppe an Menschen empfindet.
Analog könnte wohl von einem romantic awakening gesprochen werden, um den Moment oder Prozess der Erkenntnis und Entdeckung romantischer Anziehung zu beschreiben.
Ich versuche das hier so ein bisschen klobig zu beschreiben, weil ich beides selbst nicht kenne. Ich bin Anni und ich bin aroace2. Für mich bedeutet das, dass ich weder sexuelle noch romantische Anziehung zu anderen Menschen empfinde – ich habe das nie und ich gehe davon aus, dass ich das auch nie werde. Ich werde also weder ein sexual noch ein romantic awakening haben.
Ich stelle mir den Verlauf eines sexual oder romantic awakening ungefähr so vor: Du läufst durch die Gegend und denkst an irgendetwas. Vielleicht bist du gerade in Gedanken oder in ein Gespräch vertieft. Dann siehst du diesen Menschen. Vielleicht kennst du diesen Menschen schon von irgendwoher, vielleicht kennst du ihn nur flüchtig. Vielleicht kennst du ihn gar nicht. Aber in diesem unerwarteten Moment denkst du dir: wow! Und du weißt einfach, dass du diesen Menschen tollfindest, dass du ihn anziehend findest. Vielleicht kannst du dieses Gefühl nicht benennen, nicht in diesem Moment zumindest. Aber du weißt, dass es da ist. Du fühlst es. Es ist irgendwie greifbar. In dir ist irgendetwas erwacht – du bist erwacht.
Ich bin nie erwacht. Aber eigentlich schon. Awakening bezeichnet einen Prozess des Erkennens, des Entdeckens von etwas, was vorher unbekannt war. Es fühlt sich an wie ein Aufwachen und ein plötzliches Sehen und Verstehen.
Ich erinnere mich an die Zeit kurz bevor ich herausgefunden habe, dass ich aroace bin. Ich habe meinen Freund*innen aufmerksam dabei zugehört, wenn sie über die schönen Menschen geredet haben, die sie auf dem Weg in die Stadt oder auf Instagram gesehen haben, und die sie für eine Weile sprachlos gemacht haben.
Diese Erfahrung schien mir fremd und unwirklich. Mir ist so etwas nie passiert, selbst dann nicht, als ich anfing, explizit darauf zu achten. Ich habe versucht, aus den Gesprächen herauszufinden, was genau einen Menschen schön macht, attraktiv. Denn es waren immer schöne Menschen, um die es in diesen Gesprächen ging. Attraktivität war die Konstante. Aber Attraktivität ist subjektiv, das wusste ich. Ich habe bei meinen Freund*innen nachgefragt: „Was genau macht einen Menschen schön?“ Sie konnten es mir nicht sagen – oder zumindest waren ihre Antworten für mich nicht zufriedenstellend. „Es ist halt einfach ein schöner Mensch – wie siehst du das nicht?“
Ich habe eine Freundin mal gefragt, woher sie wusste, dass sie hetero ist. Sie meinte, sie habe das einfach gewusst. Daran habe ich oft gedacht, als ich angefangen habe, das Label aroace für michauszuprobieren. Am Anfang habe ich mich dagegen gesträubt; internalisierte Amatonormativität3 hat mir eingeredet, ich sei vielleicht lesbisch, vielleicht Spätzünderin, vielleicht bi. Alle machen das früher oder später – Beziehungen eingehen, ihre Partner*innen küssen. Klar kann ich das auch!
Ich kann das. Aber ich möchte nicht. Das ist der Unterschied. Dessen war ich mir schon lange Zeitvorher bewusst, eigentlich, aber ich konnte es mir nicht eingestehen. Ich weiß nicht mehr genau, wie ich endlich zu der Erkenntnis gelangt bin, dass ich aroace bin. Eine Freundin hat mich mal gefragt, wie ich das herausgefunden habe. Ich glaube, meine Antwort war ungefähr diese: „Ich habe irgendwann begriffen, dass andere Menschen tatsächlich Anziehung zuanderen empfinden.“
Rückblickend habe ich Heteronormativität in etwa so empfunden: Ich habe mich nie groß von den Gleichaltrigen in meinem Umfeld abgehoben. Ich entsprach einer Norm, von der ich nicht wusste, dass sie da ist. In der Pubertät begannen die Anderen, sich zu verändern – sie hatten ihre awakenings, aber alle zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Situationen. Ich wusste, dass das passieren würde – die Medien sind schließlich voll von solchen Geschichten. Für das hielt ich sie dann also auch: Geschichten, Fiktion.
Aber irgendwann habe ich begriffen, dass romantische und sexuelle Anziehung tatsächlich existieren. Sie sind keine Erfindung oder maßlose Übertreibung der Unterhaltungsindustrie, sondern es gibt sie tatsächlich. Nur nicht bei mir. Meine Erkenntnis war nicht das Entdecken von etwas an mir, was vorher nicht da war – denn da war ja nichts, nach wie vor. Meine Erkenntnis war das Entdecken von etwas bei Anderen. Es war ein Sehen, ein Verstehen, das sich über lange Zeit hingezogen hat. Es war ein Prozess. Vielleicht war das mein (a)romantisches und (a)sexuelles awakening.
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1Meine Übersetzung. Gefunden auf: https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Sexual%20Awakening(28.1.2021)
2aroace ist kurz für aromantic (aro) und asexual (ace) – ich bin also aromantisch und asexuell.
3 ‚Internalisiert‘ bedeutet ‚verinnerlicht‘ und bezieht sich hier auf etwas, das in den meisten Fällen seit frühester Kindheit als wahr gelernt und daher nie bzw. selten hinterfragt wurde. ‚Amatonormativität‘ bezeichnet die gesellschaftliche Annahme, dass alle Menschen den Wunsch haben, eine zentrale, monogame, amouröse Langzeitbeziehung einzugehen und diesem Wunsch aktiv nachgehen (vgl. Elizabeth Brakes Buch „Minimizing Marriage“).
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Annis Leseempfehlungen zum Thema:
•„Loveless“, ein Roman von Alice Oseman (2020)
•„Aromantic“, ein Gedicht von Rachel Martinelli (2015)
•AUREA – The Aromantic-spectrum Union for Recognition, Education, and Advocacy
•„Minimizing Marriage. Marriage, Morality, and the Law“, ein Buch von Elizabeth Brake (2012)
•„Stepping off the Relationship Escalator“, ein Buch von Amy Gahran (2017)
•@acearovolution auf Twitter (self-promo)