Kummerkastenantwort 3.011: Ist es normal, dass ich so unsicher in meiner Identität bin?
Liebes Team von Queerlexikon. Erst einmal vielen vielen Dank für eure Arbeit! Ich finde die Seite wunderbar und wirklich hilfreich.
Ich habe eine bzw. mehrere zusammenhängende Fragen, die meine Sexualität und mein gender umfassen. Ich bin 25 Jahre alt, seit 4 Jahren in einer cishet Beziehung, weiblich sozialisiert und habe mich bis Jahresanfang als cishet bezeichnet. Weil ich allerdings Irritationen gespürt habe, habe ich mich mit mir auseinandergesetzt. Nach einigem Lesen habe ich intuitiv das Label genderfluid aufgeschrieben, da ich beim Lesen aus irgendeinem Grund Tränen der Erleichterung im Auge hatte und sich unlogische Knoten in meinem Kopf damit erklären konnten. Bezüglich der Sexualität ist mir Attraktion zu nicht- männlichen Personen aufgefallen, seit ich es aktiv zulasse. Seitdem lassen mich die Themen nicht mehr los und ich durchlebe Achterbahnen der Gefühle, von Sicherheit und Euphorie zu Zweifel und Angst . In sicheren Momenten habe ich mich vor Freund_innen als genderfluid und bi geoutet, aber dabei große Unsicherheit gespürt. Ich habe Angst, dass das eigentlich nicht stimmt und ich mich irgendwie wichtig machen will. Vor allem vor Zurückweisung von queeren Personen, die dies schon lange wissen und viel Diskriminierung erleiden mussten habe ich Angst und hinterfrage mich selbst. Was ich jetzt wissen will: Ist diese Unsicherheit und Achterbahn normal? Kann ich mein Leben lang nichts bemerkt haben und nun gleich bi- und genderqueer sein? Und darf ich vor anderen sagen, dass ich bi bin ohne Erfahrung und in hetero Beziehung?
Ich habe das Gefühl, viel verletzlicher zu sein, seit ich darüber nachdenke. Und ich mache mich auch mehr selber fertig. Deshalb empfinde ich das als sehr anstrengend, weil sich dauernd auch neue Fragen öffnen und ich auch Angst habe, mich ändern zu müssen oder Freund_innen zu verlieren. Deshalb schreibe ich nun euch. Vielen Dank und ganz liebe Grüße!
Hallo!
Wie schön, dass du deine Label finden konntest! Und um deine Frage zu beantworten: Ja, es ist – leider – sehr verbreitet, dass queere Menschen ihr Queersein erst später realisieren und sich dann trotz aller Erleichterung auch trotzdem noch unsicher fühlen. Diese Gesellschaft dröht uns so mit Normativen zu, dass es schwerfallen kann, das zu entlernen. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht echt wäre!
Ich fühle mich gerade sehr an mich selbst erinnert: Heute renne ich ständig in Karohemd und Bi-Pride-Farben rum – auf meinem ersten CSD hatte ich einen “Solidarische Hete”-Sticker auf dem Handy und ein furchtbar schlechtes Gewissen, Raum einzunehmen, von dem ich dachte, dass er mir nicht gehört. Tut er aber! Mir hat damals beim Claimen meines Labels ein Blogpost sehr geholfen, der eine breiter gefächerte Repräsentation bisexueller Menschen fordert (ich saß damals echt auch da und hab geheult vor Erleichterung!). Falls zu Englisch sprichst, tut er das ja vielleicht auch bei dir. 🙂 Ansonsten haben wir hier in unserem eigenen Blog noch den Beitrag zum Queeren Imposter-Syndrom, wo du gerne mal vorbeischauen kannst.
Alles Liebe
Vanessa