Kummerkastenantwort 1584: Ich habe Fragen zu meinem Geschlecht.

hi
ich bin in letzter zeit sehr verwirrt über mein geschlecht und habe ein paar fragen.
erstmal ich bin amab und 15 jahre.
ich würde gern viel femininer sein und dabei bin ich mir nicht wirklich sicher ob sich das nur auf meine gender expression oder gender identity bezieht. ich will mich auf jeden fall femininer ausdrücken, vielleicht auch androgyn, aber wenn ich mir einen körper aussuchen könnte wäre es definitiv ein weiblicher.
ich habe jedoch keine dysphoria und diese gadanken habe ich erst seit ca einem jahr. ich habe mal gehört, dass sehr viele menschen, die trans sind, genau das schon ihr leben lang wissen. ich weiß, sowas trifft nie auf alle zu, aber es lässt mich halt zweifeln.
noch ein problem was ich habe ist, dass ich nicht wirklich rausfinden kann ob es mir schon reicht mich als mädchen zu kleiden, schminken usw. weil ich in einer sehr konservativen gegend lebe und glaube ich nicht mit den reaktionen ungehen könnte. ich bin mir außerdem nicht sicher ob meine eltern mich unterstützen würden.
ich habe drei sehr gute freundinnen die mich glaube ich immer unterstützen würden, aber ich konnte mich noch keiner so richtig anvertrauen.
eine andere sache ist, dass ich es mag wenn man mich entweder mit weiblichen pronomen oder gender neutral anspricht.

das sind jetzt alles so verschiedene gedanken die glaube ich mehr oder weniger zusammen passen.
ich hoffe ihr könnt mir ein wenig weiter helfen und wisst vielleicht wie ich diese fragen für mich beantworten kann.
danke, dass es euch gibt.

Hallo du,

Geschlecht ist ganz schön komplex und deshalb oft auch kompliziert. Gender Expression und Gender Identity lassen sich nicht immer klar voneinander trennen. Es gibt keine Regeln, wie Transsein ‘richtig’ funktioniert oder auszusehen hat. Zuallererst bist du du selbst, und da gibt es kein Richtig oder Falsch.

Es schon immer gewusst haben

Dass trans Menschen schon immer wissen, dass sie trans sind, ist ein Mythos. Ich war 20, als ich angefangen habe, mich selbst als trans zu verstehen. Ich habe schon mit Leuten gesprochen, die 30 oder 40 waren, und von Leuten gehört, die 50 oder 60 waren. Es gibt dafür kein richtiges Alter. Es sind oft die Gesellschaft und die Medizin, die diese falsche Behauptung weiter aufrecht erhalten. Deshalb suchen viele trans Menschen oft (gezwungenermaßen) nach ‘Beweisen’ in ihrer Kindheit und Jugend, dass sie schon immer so waren. Uns wird leider oft nur dann geglaubt, wenn wir versichern können, dass wir ‘schon immer’ so waren.

Das ist jedenfalls alles Quatsch. Ob du trans bist oder nicht, hat nichts damit zu tun, wie lang du es schon weißt.

Identität oder Expression?

Meine persönliche Meinung zu dieser Frage ist: Expression geht vor. Du musst nicht 100% genau wissen, welches Label dich beschreibt und welche Identität du hast, um dich in deiner Expression auszuprobieren. Leute dürfen ihre Klamotten, ihre Frisuren, ihre Namen und Pronomen ändern, ohne wissen zu müssen, ob sie ‘wirklich’ trans sind. Grade für Leute, die wenig oder keine Dysphorie empfinden oder sich nicht sicher sind, ob sie dysphorisch sind, ist das unendlich hilfreich. Dysphorie bedeutet ja sowas wie Leidensdruck. Aber trans sein bedeutet nicht nur Leiden. Sehr viele von uns merken, dass wir trans sind, nicht durch Dysphorie, sondern durch Gender Euphorie. Es geht also mehr um die Frage: Was macht dich glücklich? Wie du das dann labeln willst, kommt vielleicht irgendwann nach.

Feminine Expression, aber wie?

Du weißt schon, dass es dich glücklich macht, weiblich oder neutral angesprochen zu werden – das ist doch ein guter Startpunkt. Vielleicht kannst du deine Freundinnen ja mal vorsichtig bitten, damit anzufangen? Auch das Internet kann ein guter Ort sein, um neue Pronomen auszuprobieren.

Und was anderen femininen Ausdruck betrifft: Solche Dinge brauchen oft Zeit. Manche Leute springen ins eiskalte Wasser, andere tasten sich lieber mit den Zehenspitzen rein und arbeiten sich dann langsam vor. Mit den Reaktionen anderer umzugehen kannst du mit der Zeit lernen und du musst nichts überstürzen. Du kannst dir geschützte Räume suchen, in denen du feminine Expression ausprobieren kannst, z.B. mit deinen Freundinnen, bei Ausflügen weg von zu Hause, auf queeren Veranstaltungen o.ä.

Und du kannst auch mit kleinen Dingen anfangen. Vielleicht macht dich ja Nagellack tragen glücklich, was du zur Not auch in den Hosentaschen verstecken kannst, um Blicke und Sprüche zu vermeiden. Oder ein Oberteil aus der weiblichen Abteilung, das eher neutral oder androgyn ist. Es gibt massig Varianten, dich erstmal ein bisschen femininer auszudrücken, um zu sehen, wie es sich anfühlt. So bekommst du auch einen ersten Eindruck davon, wer wie reagiert. Das kann hilfreich dabei sein, Unterstützer*innen zu finden und es vereinfacht zukünftige Coming Outs, wenn du die möchtest.

Ich hoffe, ich konnte dir helfen, ein bisschen Ordnung zu schaffen. Melde dich gern, wenn du noch mehr Fragen hast.

Viele Grüße und alles Gute,
Balthazar

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