Keine Zeit für Angst

Von unserem Teammitglied Xenia und auf Youtube bereits vorab besprochen von unserem Teammitglied Fiona

Hallo, ich bin Xenia, man kennt mich vielleicht, weil ich dieses Projekt mitgegründet hab, weil ich das Fundraising hier koordiniere oder gelegentlich einen Blogpost vom Zaun breche.

Und heute gehts um etwas, was ich sehr mag: Musik. Manchmal mag ich auch Gesetze, Regelungen, Informationsfreiheit oder so Zeug. Heute ist nicht die Zeit dafür. Heute möchte ich einfach nur über einen Song reden, der letzten Monat rauskam.

Und während schon Labels auf uns zukamen, um uns von neuen Releases zu erzählen, die wir aufgreifen könnten, ist das hier nicht passiert.

Ich gehör zu den drei Leuten auf der Welt, die Musik über Apple Music streamen, und da schau ich gelegentlich versehentlich in die “Deutschrock Deluxe”-Playlist. Und da höre ich oft nur die Bands, die ich ohnehin schon kannte.

Kurzer Hintergrund

Bevor ich auf den Song eingehe, brauche ich ein paar Gedanken darüber, wie Ereignisse ihren Weg in Lieder finden, und wie das Erinnerung shaped.

Also keine Ahnung, die meisten von uns waren 1969 noch nicht auf der Welt, aber allein davon, dass im Elternhaus ein Radio lief, könnten wir die Idee haben, dass da was passiert ist.

Und egal, ob es letztlich die kleinen individuellen Erinnerungen oder der Bezug auf die bewegenden “großen” Ereignisse sind – sie werden damit für eine absehbare Ewigkeit konserviert. Man erinnert sich schon ein paar Jahre nach den Songs, wo sie nicht mehr das unmittelbare “jetzt” sondern das “damals” beschreiben, formen sie kollektive Erinnerung, Gedächtnis und Gedenken.

Und wenn du plötzlich Teil der Geschichte bist

Ich bin weiß. Ich werde nicht von Rassismus bedroht. Und viele Orte oder Ereignisse, auf die sich Songs beziehen, die es schon gab, als ich groß wurde, beziehen sich irgendwo auf Rechtsextremismus. Lichtenhagen zum Beispiel. Das war für mich schon immer Geschichte. Mahnende Geschichte. Aber es hat mich eben nicht selbst betroffen. Und später dann, kamen neue Songs, da ging es nicht um gestern, sondern um heute. Mahnend, dass Dinge tatsächlich brennen, weil Leute wie Seehofer, Söder und Scheuer hinterm Rednerpult rhetorisch zündeln und so am Feuer ihre Schuld tragen. Aber auch da: Ich habs verurteilt, mich haben die Rhetorik und die Taten von Rechts angeekelt. Aber ich war nicht das Ziel.

Und dann ist 2023. Und dann ist da wieder ein Song, der erzählt, was gerade abgeht. Was gerade von Rechts abgeht. Und auf einmal bin ich nicht mehr außen vor. Auf einmal ist da ein Event in einem Song benannt, wo der Angriff auch mir galt. Nicht als Individuum. Aber als queere Person.

Für jeden rechten Mord aus Hass
Gibt es noch zu viel Toleranz
Sie erzählen von Einzeltätern
Reden die Motive klein
Egal, ob Hanau, CSD oder Idar Oberstein

Und ja. Ich kenne die Statistik. Ich bin jeden Tag queer. Ich bekomme das mit, dass queere Menschen verstärkt von Straftaten, Diskriminierung und Hass betroffen sind. Das ist nicht, wieso mich dieser Song erwischt hat. Es ist nicht, dass ich hier was Neues gelernt hätte.

Mir ist nur klar geworden: Es ist so heftig, wirklich so heftig, so beschissen, so am Arsch, so falsch, dass das nicht nur in der Kriminalstatistik, sondern eben auch in Songs landet. In Songs, über die Menschen vielleicht in 10, in 20 Jahren noch reden, und dann bin ich ein Teil des “damals”, so wie für mich rechte Gewalt in der Wendezeit ein “damals” ist.

Und seriously. Gar kein Bock. Aber ausgesucht hab ichs mir auch nicht.

Daher danke an 100 Kilo Herz, danke für Keine Zeit für Angst und für

Ich möchte endlich Wut
Ich will ein lautes Schreien
Wenn sie ihre Lügen brüllen
Müssen wir noch lauter sein

Ich möchte keine Kompromisse um meine und unsere Rechte. Ich möchte auch nicht mehr auf “die Gesellschaft ist ja noch nicht so weit” oder “die Verwaltung kann das noch nicht” vertröstet werden. Ich bins komplett Leid, wie Ordnung vor Menschenrecht gestellt wird. Ich bins dermaßen Leid, wie mir und uns zugestimmt wird, wenn wir sagen, was wir brauchen, aber uns widersprochen wird, wenn wir das auch haben wollen. Ich bins dermaßen Leid, dass Menschen, die nicht queer sind, den Zeitplan setzen wollen, können und anscheinend dürfen, wie wir zu wirklich gleichen Rechten, gleichen Chancen und gleichem Schutz kommen.

Was hat das eine jetzt mit dem anderen zu tun, Xenia?

Ganz einfach: Egal, ob Leute uns literally auf CSDs umbringen oder ob Leute uns in Argumenten, in Ämtern und Mandaten Rechte absprechen – sie alle hindern queeres Leben, queere Kultur, queere Individuen daran, den Platz einzunehmen, die Ruhe zu haben und die Anerkennung zu bekommen, die wir alle haben sollten.

Und deswegen: Ich möchte endlich Wut.

Hintergrund

Der Song:

1969:

  • Eine politisch super aufgeladene Zeit in den USA (civil rights movement, Malcom x, Vietnamkrieg, Mondlandung) aber auch das Woodstock-Festival

Lichtenhagen:

  • Lichtenhagen ist ein Ortsteil von Rostock
  • 1992 kam es dort bei einer Unterkunft für Asylsuchende zu rechtsextremen Ausschreitungen
  • die Unterkunft wurde unter dem Beifall von über 3000 Schaulustigen in Brand gesteckt
  • der Pogrom markiert einen Wendepunkt in der Asyldebatte der frühen 1990er Jahre
  • der folgende Asylkompromiss schränkte das Grundrecht auf bisher beispiellose Weise ein.

Seehofer, Söder und Scheuer:

  • Horst Seehofer, Markus Söder und Andreas Scheuer sind alles Politiker bei der CSU
  • Seehofer war Bundesinnenminister (und verhinderte dort Studien und Aufklärung zu Rassismus in der Polizei)
  • Scheuer war Bundesverkehrsminister, CSU-Generalsekretär (und fiel da negativ auf, weil er populistische, aufstachelnde Scheiße über Geflüchtete erzählte)
  • Söder ist Ministerpräsident in Bayern und hat schon öfter das Grundrecht auf Asyl in Frage gestellt
  • die gesamte Formulierung, die diese drei Leute zusammenbringt und das rhetorische Zündeln in den Kontext von tatsächlichen Brandanschlägen stellt, ist eine Referenz auf wir sind alle nicht von hier von Jennifer Rostock

Hanau:

  • Im Februar 2020 hat eine Person aus rassistischen Motiven in Hanau 20 Menschen ermordet
  • der Täter war im Vorfeld dem BKA bereits aufgefallen
  • am Tag des Anschlags war der Polizei-Notruf teilweise nicht erreichbar
  • die BPB hat einen Einstieg ins Thema

Idar Oberstein:

  • Im September 2021 erschoss eine Person mit rechtsextremen Motiv die Kassiererin in einer Tankstelle in Idar-Oberstein
  • die Situation war eskaliert, nachdem die Angestellte den Täter auf die damals geltende Maskenpflicht aufmerksam gemacht hatte

CSD:

  • Kurz für Christopher Street Day
  • in der Christopher Street stand das Stonewall Inn
  • und am Stonewall Inn starteten 1969 die Unruhen, die den Wendepunkt zum Besseren in der modernen Bewegung für queere Richtung markieren
  • hier gemeint ist wohl der CSD in Münster 2023
  • im Nachgang der Veranstaltung wurde unter anderem ein trans Mann körperlich angegriffen und erlag später seinen Verletzungen
  • das ist bei weitem nicht der einzige Angriff auf CSDs und vergleichbare Veranstaltungen in 2023 in Deutschland

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