Nicht-binäre Lesben hat es immer gegeben

Dieser Blogpost ist eine Übersetzung des Medium-Artikels “Non-binary lesbians have always existed” von Jules Rylan, im Netz zu finden unter @radiantbutch.

Die Begriffe, die für Geschlechtsidentiät verwendet werden, entwickeln sich ständig weiter. Das wirft viele Fragen auf über GBTQIA+-Label, Bezug auf Geschlecht nehmen – besonders, wenn es ums Lesbischsein geht. Wo können nicht-binäre Menschen ihren Platz finden? Können nicht-binäre Menschen sich mit geschlechtsbezogenen Labeln identifizieren, und gilt das auch für sexuelle Orientierungen?

Kurz gesagt: Ja! Aber für diejenigen, die sich für die Langform interessieren, werde ich von der Geschlechtsdiversität erzählen, die sich in der lesbischen Geschichte finden lässt, vom Ursprung nicht-binärer Identitäten, von Geschlechts-Nonkonformität als mögliche Erfahrung von trans Menschen, und wie das alles mit dem aktuellen Erleben von nicht-binären Lesben zusammenhängt.

Was bedeutet nicht-binär nun eigentlich?

“Nicht-binär” bezeichnet erstmal jede Geschlechtsidentität außerhalb des binären Erlebens von Männlichkeit und Weiblichkeit. Der Begriff fällt unter den Oberbegriff “trans”, wobei sich nicht alle nicht-binären Menschen als trans sehen. “Nicht-binär” ist ein Begriff, der sich auf alle Geschlechtsidentitäten außerhalb der Geschlechtsbinärität bezieht, nicht ein einziges drittes Geschlecht.

Obwohl die Terminologie dafür in den USA erst 1995 geprägt wurde, hat sich Geschlecht schon viel länger und in vielen unterschiedlichen Kulturen außerhalb der engen Grenzen der Zweigeschlechtlichkeit bewegt – auch innerhalb der lesbischen Kultur.

Wenn es nun also die Begrifflichkeiten noch nicht immer gab, wie definiere ich dann ein Erleben außerhalb der Geschlechtsbinärität? Auf die lesbische Kultur bezogen meine ich damit eine Erfahrung von Geschlechts-Nonkonformität innerhalb des Lesbischseins, eine Subversion von Weiblichkeit durch Maskulinität, Androgynität, oder auch Femininität, die nicht darauf auslegt ist, Männern zu gefallen. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle gender-nonkonformen Lesben in der Geschichte nicht-binär waren oder sich heute mit diesem Label identifizieren würden. Es geht eher darum, zu erkunden, wie Geschlecht-Nonkonformität schon immer ganz selbstverständlich Teil der lesbischen Kultur war. Wenn wir diese Entwicklung, verbunden damit, wie sich die Definition von “nicht-binär” im Laufe der Zeit entwickelt hat, verfolgen, ergibt sich unweigerlich die Existenz von nicht-binären Lesben, die einfach nur die gebräuchlichen Geschlechter-Begriffe verwenden, die unserer Community inzwischen zur Verfügung stehen.

Lasst uns also in der Zeit zurückreisen und uns die Geschlechts-Nonkonformität in der lesbischen Kultur ansehen – und was sie mit modernen nicht-binären Identitäten zu tun hat

Laut “Odd Girls and Twilight lovers: A History of Lesbian Life in Twentieth-Century America” von Lillian Faderman gab es in den späten 1800ern Frauen, die Männerklamotten trugen und in Fabriken arbeiteten. Viele dieser Frauen hatten auch “romantische Freundschaften” miteinander. Diese Frauen können wir als die ersten Butches der Amerikanischen Lesbenkultur betrachten. Springen wir nun vor in die 1940er und 1950er Jahre, so können wir beobachten, wie die lesbische Bar-Kultur zum Leben erwacht: Ein Raum, in dem die Butch/Femme-Dynamik Geschlechtsidentitäten und Geschlechtspräsentation innerhalb dieser wachsenden Communities prägte. Auf Grundlage der Drag-Gesetze zu dieser Zeit lauerten Polizist*innen vor den Bars und versuchten, Frauen zu erwischen, die zwei oder weniger “Frauen”-Kleidungsstücke trugen. Wollten Butch-Lesben ihre Maskulinität ausleben, mussten sie also versuchen, auch im Alltag als Männer wahrgenommen zu werden. Deshalb verwendeten sie he-Pronomen und gaben sich Männernamen.

In den Bars selbst versuchten diese Butches jedoch nicht, als Männer wahrgenommen zu werden, sondern vielmehr, die strikten Erwartungen ans Frausein infrage zu stellen. Diese Maskulinität außerhalb des Mannseins, die die Community stärkte und somit Butchness bis heute in der lesbischen Kultur verankerte. Lesben, die mit ihrer Femininität zufrieden waren, labelten sich als “Femmes” – diese Butch/Femme-Dynamik prägt bis heute die lesbische Kultur. Die Geschlechterregeln veränderten sich, wurden neugeschrieben. Maskulinität nahm eine neue Form an und wurde mit der Zeit gewissermaßen zu einer eigenen Geschlechtsidentät innerhalb des Lesbischseins. Eine bemerkenswerte Butch-Lesbe, die andere Pronomen benutzte als she/her, war Stormé DeLarverie. Der folgende Twitter-Thread von @BellaRizinti geht weiter auf sein Leben und seine Geschlechts-Nonkonformität ein. He/Him-Lesben hat es immer gegeben. 

In den 1990er Jahren, als die Identität Butch einen Renaissance erlebte, begann Leslie Feinberg – Butch-Lesbe und Aktivist*in -, Romane zu veröffentlichen, die auf auf hir Leben basierten und sich mit trans Themen beschäftigten. Auch auf die Barkultur nahmen sie Bezug. Dies veränderte, wie wir Lesben und Geschlecht heute wahrnehmen. Hir Roman “Transgender Liberation: A Movement whose time has come” (zu Deutsch: “Die Befreiung der trans Menschen: Eine Bewegung, deren Zeit gekommen ist”) erweiterte den Begriff “transgender” um Geschlechts-Nonkonformität und alle weiteren Variationen. Hir anderes Buch, “Stone Butch Blues”, erkundet die Komplexität vor Geschlechtsidentität innerhalb des Lesbischseins.

Wer war ihr nun – Frau oder Mann? Dies Frage konnte nicht beantwortet werden, solange es nur diese beiden Antwortmöglichkeiten gab. Sie konnte nicht beantwortet werden, solange sie überhaupt gestellt werden musste.”
– Leslie Feinberg, Stone Butch Blues

Im selben Jahrzehnt kreierte trans Aktivist*in Riki Anne Wilchens den Begriff “genderqueer”: das erste nicht-binäre Identitätslabel, das in Amerika weitreichender populär wurde. In einem Interview mit In Your Face im Jahre 1995 beschrieb Wilchens damit “alle, die gender-nonkonform sind”. Leslie Feinberg selbst sagte einmal: “Ich mag das Pronomen ze/hir, weil es es unmöglich macht, an den üblichen Erwartungen zu Geschlecht und Sexualität festzuhalten”. Ze nahm zwar hin, einen “weiblichen Körper” zu haben, sah sich aber nicht als cis. In einem Interview 2006 sagte ze: “Ich bin eine Butch-Lesbe, eine transgender Lesbe”. Während sich also manche Butches als cis sehen, weil sie sich vollständig mit ihrer Weiblichkeit verbunden fühlen, trifft das nicht auf alle zu. Für manche Butches ist sogar das Label “Butch” an sich eine nicht-binäre lesbische Identität, eine ganz eigenes Geschlecht.

Um genau zu sein bin ich selbst eine dieser Lesben. Geschlechts-Nonkonformität innerhalb lesbischer Kultur überschneidet sich mit Trans-Identität, denn wenn mensch außerhalb der Grenzen von geschlechtlichen Erwartungen lebt, liebt und existiert, erlebt mensch Geschlecht anders. Das kann einen Einfluss auf deine gesamte Geschlechtsidentität haben und für viele Lesben hat es das auch. Nun, da nicht-binäre Identitäten mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt sind, haben Lesben das Konzept für uns selbst angenommen, um endlich ein inklusives Label für etwas zu haben, das wir schon lange erlebt haben: Eine Loslösung von unserer bei der Geburt zugewiesenen Geschlechterrolle und der damit verbundenen Identität und Erwartungen. Casey Legler, französisch-amerikanische*r Autor*in und Butch-Lesbe, bezeichnete sich in einem Interview mit Kerry Manders, das in der New York Times erschien, als “als trans Butch identifizierende Person – ohne Operation oder Hormone”.

Auch Transmaskulinität ist ein nicht-binäres Konzept innerhalb des Lesbischen, das die Erfahrung vieler Lesben einfängt, die eine Transistion in Richtung einer maskulinen Geschlechtsidentität erleben.


Lesbische Transmaskulinität

Wenn du an den Begriff “transmaskulin” denkst, denkst du vermutlich typischweise erstmal an trans Männer und nicht-binäre Menschen, denen bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, die sich aber eher mit Männlichkeit verbunden fühlen. Das sind natürlich valide Beispiele für transmaskuline Identitäten, aber es gibt auch noch andere transmaskuline Menschen in der LGBTQ+-Community, besonders innerhalb der lesbischen Kultur.

Ein wichtiges Beispiel dafür ist, dass Mitglieder der Butch-Community oft ihre Brüste entfernen lassen, Testosterone nehmen, sich maskuline Namen geben und he/him-Pronomen benutzen, um sich maskuliner zu präsentieren. Auch das ist eine transmaskuline Erfahrung.

Diese Art von Maskulinität ist nicht mit dem Mannsein assoziiert wie sie das für trans Männer ist, sondern eine subversive Präsentation, die historisch und kulturell mit dem Lesbischsein verbunden ist. Nicht alle maskulinen Lesben – egal, ob sie cis oder trans sind – müssen sich mit dem Label “Butch” (oder auch “Stud”, eine Schwarze maskuline lesbische Identität) identifizieren.


Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nicht alle transmaskulinen Menschen auch trans Männer sind. Jede Person, die nicht cis ist und sich zu einem gewissen Grad mit Maskulinität identifiziert, kann sich als transmaskulin bezeichnen – das gilt auch für Lesben, die sich den traditionellen Geschlechtererwartungen widersetzen, wie viele Lesben es tun.

Wenn wir anerkennen, dass Trans-Identäten auch geschlechts-nonkonforme Erfahrungen mit einbeziehen – was uns sowohl die Person zu verstehen gibt, die den Begriff “genderqueer” geprägt hat, als auch die vielen Lesben, die sich nicht vollständig ihrer traditionellen cisheteronormativen Weiblichkeit verbunden fühlen -, ist offensichtlich, dass es nicht-binäre Lesben schon immer gegeben hat und dass es uns immer geben wird. Identitäten wie “Femme”, “Butch”, aber auch “Lesbe” selbst können als Geschlechtserfahrung betrachtet werden und somit auch außerhalb der Geschlechtsbinärität liegen. Lesbischsein und Geschlechts-Nonkonformität/nicht-binäre Erfahrungen sind Konzepte, die eng verbunden sind.
Lesbischsein greift das Bild traditioneller cishet Weiblichkeit grundlegend an. Manche Lesben erleben diese Subversion so stark, dass es sich nach einer kompletten Trennung anfühlt. Dann sehen sie sich vielleicht als agender oder leben die Losgelöstheit von traditioneller Weiblichkeit durch Maskulinität aus. Oder sie sehen sich als nicht-binär und nutzen andere Pronomen als sie/ihr. Wenn du selbst keine Lesbe bist, ist es sicher schwer zu verstehen, was für ein komplexes Verhältnis wir zu Geschlecht haben.

Frei vom strikten Binäritätskonstrukt der Gesellschaft zu sein, das seine Wurzeln in der Cisheteronormativität hat, ist eines der schönsten, empowerndsten Dinge an der lesbischen Kultur. Es bedeutet Sicherheit. Es bedeutet Zuhause.

Eine lesbische Geschlechtspräsentation, die die Normativität mit he/him-Pronomen irritiert, hat ebenso viel Respekt verdient wie feminine cis Lesben, und beides sind “richtige” Lesben. Unsere Kultur eröffnet die Möglichkeit, die Geschlechterregeln neu zu schreiben, und eine weitreichende Freiheit, das auszudrücken. Vor allem aber ist Lesbischsein eines: Befreiung.

He/him-Lesben im Besonderen sind historisch mit der lesbischen Geschlechtsidentität verknüpft. Auch wenn das Konzept ursprünglich aus Sicherheitsgründen entstanden ist, ist es mit der Zeit Teil unserer Kultur geworden. Manche he/him-Lesben sind lesbische cis Frauen, aber andere sind das nicht und auch diese sind echte Lesben. Als das verbreitetste neutrale Pronomen ze/hir war, haben einige Butchlesben (und sogar Lesben, die keine Butches waren) das benutzt, wie im Buch “Butch is a noun” (zu Deutsch: Butch ist ein Hauptwort) von S. Bear Bergman dokumentiert ist. Seit der Gebrauch von they/them als persönliches Pronomen populär wurde, gibt es mehr Lesben mit neutralen Pronomen als je zuvor.

Wenn Leute so Sachen sagen wie “ihr habt keine Quellen dafür, dass they/them-Lesben schon länger existieren”, möchte ich sie daran erinnert, dass auch die Lesben, die gerade leben Teil der lesbischen Geschichte sind. Wir existieren jetzt gerade und sagen euch, wer wir sind. Nicht alle gender-nonkonformen Lesben sehen sich selbst als nicht-binär, aber viele tun das – und es gibt mehr von uns, als ihr denkt.

Im Endeffekt ist es wichtiger, die Identität von Menschen zu respektieren, als sie in eine Schublade zu stecken. Respektiert also alle nicht-binären Menschen, auch nicht-binäre Lesben. Und glaubt uns, wenn wir sagen: Wir waren schon immer hier.

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