Nicht vermittelbar

Ich verstehe Dinge nicht. Deswegen schreib ich das mal auf und frag nach. Wenn ich glauben würde, dass es wer Verantwortliches lesen und mir eine Antwort geben würde, würde ich es einen offenen Brief nennen. Oder in einen Umschlag stecken es verschicken und erstmal sonst niemand zu Gesicht bekommen lassen. Da ich das aber nicht sicher weiß, schreib ich das mal hierhin.

Um wen geht das hier?

Wenn das hier ein Brief wäre, ging er an den Vorstand der SPD-Fraktion im Bundestag. An die Vorsitzenden der Fraktion und an die parlamentarische Geschäftsführung.

Von Wollen und Gelingen

Zur Abwechslung geht es dabei um Reformvorhaben für TSG. Dazu drei examplarische Beispiele. Es gäbe aber sicher mehr.

Das Wahlprogramm

Die SPD hat sich ein Programm für die kommende Bundestagswahl gegeben. Streng genommen ist das nicht die Fraktion sondern die Partei. Das mag sein, dennoch sollten Beschlüsse der Partei von der Fraktion jetzt nicht gerade konterkarriert werden. So für Glaubwürdigkeit zum Beispiel. In diesem vom Parteitag beschlossenen Programm für die Wahlen 2021 steht nun unter anderem im dritten Kapitel:

Kein Gericht sollte künftig mehr über die Anpassung des Personenstandes entscheiden. Psychologische Gutachten zur Feststellung der Geschlechtsidentität werden wir abschaffen. Jeder Mensch sollte selbst über sein Leben bestimmen können. Wir wollen, dass trans-, inter- und nicht binäre Menschen im Recht gleich behandelt werden, deshalb werden wir das Transsexuellengesetz reformieren.

Das spricht für mich eine klare Sprache. Die SPD möchte gerne das TSG ersetzen. Gutachtepflicht soll entfallen. Ebenso der Gang zum Gericht.

Der eigene Versuch

Die SPD hat das in dieser Legislaturperiode schonmal versucht. Das ist nun ziemlich genau zwei Jahre her. Im Mai 2019 wurde auf Buzzfeed der Referententwurf dazu öffentlich.

Das war ein super zughafter Versuch und ging nicht weit genug. Das einzig starke daran war, dass die SPD hier Initiative bekannt hatte und Dinge ändern wollte. Naja, und dass das Ministerium nach Kritik verschiedener Verbände anschließend zurückgerudert ist und der Entwurf im Sande verlaufen ist.

Und dann kam noch das BMI

Noch ist nicht so super viel über den zweiten Vorstoß für eine Reform aus Bundesministerien heraus in dieser Legislaturperiode bekannt. Entwürfe sind da teilweise geleakt, das Ministerium mauerte aber stehts und kommentierte, wenn überhaupt, damit, dass das keine offizielle Veröffentlichung sei und daher nicht kommentiert werden würde.

Auch der Entwurf war nicht ausreichend. Die SPD kann erstmal nichts dafür, was sich unionsgeführte Ministerien so ausdenken. Das stünde auch nicht hier, wenn die SPD sich da rausgehalten hätte. Hat sie aber nicht.

Am ersten April veröffentliche die SPD-Fraktion eine Pressemitteilung. Der Tenor darin: Die CDU will an medizinischer Pflichtbegutachtung festhalten, die SPD lehnt das aber ab.

Uns ging es immer um eine Lösung im Sinne der Betroffenen, die das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen im Blick hat, nicht um eine Reform um jeden Preis.

Und ja, die SPD hat da so ein Ding mit ergebnissoffener Beratung, was sie da irgendwie mitreinpacken will. Wohl damit Menschen auf jeden Fall wissen, was die Rechtsfolgen einer Änderung wären. Für diejenigen, die deswegen unsicher sind, sicher gut, dass es damit so etwas geben würde. Für diejenigen, die Bescheid wissen, wäre das verpflichtend etwas albern. “Sie wollen also” – “ja” – “Sie wissen” – “ja” – “ok, danke, hier der Beratungsschein”

Unschlüssige Schlussfolgerungen

Damit wäre erörtert, dass die SPD einerseits an einer TSG-Reform sehr wohl interessiert ist, da auch die Selbstbestimmung in den Mittelpunkt stellen will. Andererseits hat sie das schon versucht und das zurecht dann selbst wieder verworfen. Auch der Koalitionspartner ist wohl nicht in der Lage was angemessen zu produzieren. Bis hierhin ist da noch gar kein Vorwurf in der Sache. So läufts manchmal.

Was ich nun nicht verstehe ist: Da hat die SPD was versucht. Das klappt nicht. Sie will das aber haben. Und jemand anderes (namentlich die FDP mit dem Geschlechtsidentitätsgesetz und die Grünen mit Selbstbestimmungsgesetz) haben da was gebaut.

Die SPD hätte in den Parlaments-Ausschüssen ein Jahr lang Zeit gehabt und hat noch Zeit bis Mittwoch, falls sie da nicht überzeugt sind, Kompromisse zu finden und Änderungsanträge zu stellen.

Was sie stattdessen tat: Für die Beschlussempfehlung zusammen mit der Union und der AfD gegen die Entwürfe von Grünen und FDP stimmen. Und mindestens eine Abgeordnete der SPD hat das (und damit auch die voraussichtliche Ablehnung im Plenum) später mit dem bestehenden Koalitionsvertrag begründet.

Nicht erklärbar

Mir ist bewusst, dass Stabilität in Bundesregierungen bis ins Parlament hinein als quasi heilig gilt. Mir ist bewusst, dass die Implikationen einen Koalitionsvertrag zu brechen und offen gegen den Koalitionspartner abzustimmen, riesig wären.

Und trotzdem will mir das nicht schmecken. Das hat einen formalen Grund: Koalitionsverträge sind vom Grundgesetz nicht besonders geschützt. Das ist was, was man halt so macht. Umgekehrt schützt das Grundgesetz das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten. Die sind ausdrücklich an Auftrag und Weisung nicht gebunden und nur dem eigenen Gewissen unterworfen. Verbieten kanns der SPD-Fraktion also niemand.

Formales Argument hin oder hier: Die Frage dabei ist, warum die SPD das tun sollte. Das macht ja Ärger mit der Union und es sind noch paar Monate bis zur Wahl. Weil die Union vorgemacht hat, dass sie keine TSG-Reform kann. Wenn ich aber nun die SPD bin und eine TSG-Reform will, erkenne ich ja mindestens implizit an, dass die bisherige Lösung schlecht ist. Dass die bisherige Lösung belastend und erniedrigend ist. Und dann zu sagen, ja, hm, später vielleicht, leidet mal noch bisschen länger, wirkt auf mich unanständig.

Eines der informelleren Argumente, wieso mir das nicht passt, ist dass so circa jedes Nachbarland von Deutschland bessere Gesetze für Personen, die trans sind, hat, als Deutschland selbst.
Das TSG hat in der Wikipedia ein eigenes Kapitel darüber, was das Bundesverfasssungsgericht bisher darin außer Kraft gesetzt hat, weil es mit dem Grundgesetz nicht vereinbar war. Eine Partei, die sich “Wir wollen aus Träumen Zukunft machen” als Leitgedanken formuliert, aber mit den Schultern zuckt und eine Reform auf nach der Wahl hoffentlich verschiebt, wirkt da etwas verwunderlich.
Und, und das ist ein schwaches Argument: Wenn die SPD jetzt für eine Reform stimmen würde, was sollte die Union denn dann tun? Vier Monate vor der Wahl die Koalition aufkündigen und dann mit Grünen und FDP weiter regieren? Mit der FDP die zu Beginn der Legislatur eine solche Dreier-Koalition hat platzen lassen. Mit den Grünen, wenn es eines der letzten größeren Vorhaben in der Amtsperiode sein wird, das Klimaschutzgesetz nach den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts anzupassen?

Ich lasse mir gern erklären, wieso das Verhalten der SPD angemessen und sinnvoll ist. Mit allem, was ich an Wissen und Überlegung miteinbeiehen kann, erscheint mir das bisher nicht vermittelbar. Eine Reform ist möglich und nötig. Dass die SPD-Fraktion sich hier querstellt, halte ich für nicht vermittelbar.

Aber gut, warten wir halt. Warten wir, bis der SPD nach der Wahl noch was anderes einfällt, wieso man Leuten, die trans sind keine faire Behandlung zugestehen kann. Oder wir warten, bis das Bundesverfassungsgericht über Beschwerde der Gesellschaft für Freiheitsrechte entscheidet – und womöglich alles, was noch vom TSG übrig ist, einkassiert. Ich würde gerne sagen, passt schon, warten wir, ich hab Zeit. Aber ehrlich gesagt sind 40 Jahre TSG jetzt wirklich zu lang.


P.S.: Es sind noch ein paar Tage bis Mittwoch und da kann man drüber nachdenken, den Abgeordneten der SPD mal noch eine Mail zu schreiben oder anzurufen – und klarzumachen, dass es unanständig ist, Leute höflich um Grundrechte bitten zu lassen und sie dann auf später zu vertrösten.

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