Kummerkastenantwort 399 – Bin ich nichtbinär? Und wie bringe ich meine Eltern dazu, mich zu akzeptieren?

TW: Hier geht es unter anderem um Bi-, Poly- und Transfeindlichkeit.

Hi,

ich weiß nicht wie ich es am Besten formulieren soll. Schon mehrfach habe ich diesen Text angefangen und wieder verworfen. Vielleicht etwas zu mir am Anfang. Ich, männlich, 35. Ich habe jahrzehntelang darüber geschwiegen, dass ich neben Frauen, auch Männer und Transsexuelle anziehend finde. Ich habe für mich das Label polysexuell als passend definiert. Warum habe ich solange gewartet? Weil es mir bisher nicht wichtig war und es auch keinen Anlass gab. Ich war noch nie verliebt gewesen (Ein gewisser Hang zu Aro vermute ich). Dazu kam, dass ich als Jugendlicher mal versucht hatte mich als bisexuell zu outen. Ich wurde aber von meinen Freunden ausgelacht. Daher habe ich jahrelang geschwiegen.

Seit einem halben Jahr aber, hatte ich den Mut gefunden und mich mehreren Leuten geöffnet. Die Reaktionen waren auf das Outing waren vorwiegend positiv. Mit Ausnahmen. Ich habe meinen Eltern gesagt, dass es mir ziemlich egal ist welches Geschlecht mein Partner hätte. Meine Mutter hatte Tränen in den Augen, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie wirklich verstanden hatte was ich damit meinte. Vor kurzem kam für mich die Bestätigung darüber. Wir hatten uns einen Film angesehen und ich habe sie gefragt, wie der Schauspieler da heißt. Sie nannte mir den Namen und im nächsten Satz “Das ist doch eine Schwuchtel”. Ab da wusste ich, dass Sie es gar nicht verstanden hat oder verstehen wollte. Ich war geschockt gewesen, bin aber darüber hinweggegangen. Ich habe in den Jahren viel gelernt meine wahren Gefühle zu verstecken.

Hinzukommt aber auch, dass ich bereits seit einiger Zeit eine Identitätskrise habe. Ich hasse es ein Mann zu sein. Ich hasse es Ich zu sein. Dies hat auch viel mit Ablehnung und negativen Erfahrungen zu tun. Hetero-Frauen und auch lesbische Frauen (eine ehemalige Schulfreundin von mir) sehen in mir sofort den Homosexuellen, wenn sie erfahren wie ich empfinde. Auch das Wort Perverser habe ich schon zu hören bekommen. Von Bi-, pan- und polysexuellen habe ich zu hören bekommen, dass ich nicht in Frage komme “weil ich ein geborener Mann sei…”. Bei Männern ist es oftmals schlimmer. Entweder ich höre abfällige Kommentare, dumme Witze oder “du siehst aber gar nicht schwul aus.” “Wärst du ein Mädchen, dann wäre das jetzt süß, geil, porno” oder wie auch immer ihr es nennen wollt.

Mann, das kotzt mich tierisch an. Immer in eine Ecke geschoben zu werden. Auch von Leuten aus der LGBT- Gemeinde. Gerade die müssten es doch wissen.

Dies ist jetzt echt nicht gegen Homosexuelle gerichtet. Aber wenn ich in diese Ecke gedrängt werde, dann fühle ich mich missverstanden, weil damit alles andere ausgeblendet wird. Und andersherum ist es ja genauso. Da bin ich dann wieder zu hetero oder “einfach ein MANN”!!!! Das zieht mich echt runter.

Bereits seit einigen Jahren ist dort aber auch eine kleine Stimme in meinem Kopf. Wenn ich beispielsweise Frauen in attraktiver Kleidung sehe, denke ich mir, wenn du eine Frau wärst, dann würdest du das auch gerne tragen. Ich hätte durchaus auch Lust dazu Frauenrollen zeitweise anzunehmen und auszuprobieren. Hindern tut mich daran mein männlicher Körper (breite Schultern, Bartwuchs, Körperhaare). Ich habe auch Angst davor, dass andere mich wieder belächeln oder auslachen, weil ich äußerlich einfach nicht wirklich weibliche Attribute mitbringe.

Aber meistens jedoch will ich eigentlich gar nichts sein. Mir ist es mittlerweile egal ob ich Mann, Frau oder sonst was bin. Auch hasse ich meinen Namen. Ich hätte lieber einen anderen.

Mein Coming-Out habe ich mittlerweile wieder auf Eis gelegt. Wenn ich von niemanden akzeptiert werde, dann spielt es auch irgendwie keine Rolle. Ich fühle mich dann, als ob ich mit einer Wand rede. Aber innerlich ärgere ich mich auch wieder darüber. Es gab ja auch positive Erfahrungen. Aber warum kann ich nicht so sein wie ich bin? Ich will am liebsten damit herausplatzen, meine Fahne schwingen und allen sagen FUCK OFF.

Für mich stellen sich daher im Augenblick folgende Fragen. Wie soll ich am Besten mit diesen Situationen umgehen? Soll ich meinen Eltern noch einmal mit Nachdruck sagen, wie ich empfinde?

Auch das Thema “nicht-männlich” fühlen. Wann fängt non-binary an? Kann es sein, dass ich etwas non-binary/ genderfluid in mir habe? Wo kann ich Hilfe finden um diese Frage für mich zu klären?

Zum Schluss möchte ich nochmal sagen, dass Ihr hier eine tolle Arbeit leistet. Ihr habt mir schon einmal geholfen. Und ich hoffe, dass ihr es wieder könnt.

Liebe Grüße

Sascha

Hallo Sascha,
danke für deinen ausführlichen Text. Ich nehme sehr viel Frustration bei dir wahr, die ich gut verstehen kann. (Kurzer Disclaimer: trans ist ein Adjektiv, deshalb trans Personen oder trans Männer/Frauen, Transsexuelle ist ein Begriff, der für viele mit Pathologisierung verknüpft ist und verletzt.)

Jetzt zu dir und deinem Problem. Zuallererst, du bist damit nicht alleine. Viele Bi-, Pan-, und Polysexuelle kennen das Problem vom Erasure und Feindlichkeit in der Hetero- und der LGBTIQA+ Welt (obwohl das B dadrin explizit steht. Eigentlich.). Ich kann dir nur sagen, dass deine Sexualität valide ist und du valide bist, wenn du sie ausleben möchtest. In vielen Städten gibt es auch Stammtische für Bi-, Pan- und Polysexuelle, vielleicht kannst du dich da unter Gleichgesinnten austauschen, die ebenfalls Probleme damit haben?

Aber unabhängig davon, ob du nichtbinär, trans oder genderfluid bist (was ich dir nicht sagen kann, weil das nur du selbst schlussendlich wissen kannst), hast du jedes Recht, Kleider zu tragen oder deinen Namen zu ändern. Um Sicherheit zu gewinnen, empfehle ich persönlich immer, mir die unterschiedlichen Stimmen von trans und nichtbinären Personen anzuhören, ihnen auf den sozialen Medien zu folgen und zu gucken, ob sich da etwas für dich passend anfühlt. Geschlecht ist ein kompliziertes Ding.
Gerade aber wenn du oft darüber nachdenkst, wie es wäre, nicht cis männlich zu sein, ist meiner Erfahrung nach die Wahrscheinlichkeit hoch, dass du nicht cis männlich bist – die meisten cis Personen müssen nicht so viel über ihr eigenes Geschlecht nachdenken, sie leben es einfach.

Bezüglich dessen “die weibliche Rolle einnehmen” – gerade im Bereich von Crossdressing und Drag wirst du auf Gleichgesinnte stoßen, die dir auch mit praktischen Tipps Unterstützung geben könnnen.
Crossdressing bezeichnet Männer, die sich in femininer Kleidung/Schuhen wohlfühlen und diese bewusst tragen.
Drag ist ähnlich, überspitzt die weibliche Rolle jedoch deutlich mehr und wirkt eher bewusst karikierend, als alltagstauglich. In beiden Szenen wirst du Menschen finden, denen es genauso geht wie dir, die jedoch in den meisten Fällen cis Männer sind. Beim Crossdressing sind alle Sexualitäten vertreten, die meisten genießen nur das “Ausprobieren” im weiblichen Geschlecht.

Ob du dich erneut outen sollst… Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Deine Eltern scheinen es das letzte Mal schon nicht gut aufgenommen zu haben und du solltest dir gut überlegen, ob es die Kraft wert ist. Ich finde auch wichtig, bei einem Outing ein unterstützendes Netz im Rücken zu haben, das sich um Menschen kümmert, wenn das Outing nicht gut läuft.

Ich hoffe, ich konnte dir helfen.
Liebe Grüße
Fluff

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