CSD barrierefrei(er) – aber wie?

Dieses Jahr ging es vielen von uns so: Endlich wieder CSD! Endlich wieder Party und Glitzer und eine Menge anderer queerer Menschen drumrum, juhu! Nach fast eineinhalb Jahren Pandemie haben es viele von uns satt, allein zu Hause zu sitzen.
Aber nicht für alle von uns ist das so einfach. Große Menschenmassen, Lärm, Enge, lange Demostrecken, keine Sitzgelegenheiten, und und und… das alles macht es manchen Leuten schwierig, zu CSDs zu gehen. Für andere macht es das ganz unmöglich.

Auf Instagram haben wir euch gefragt: Was macht CSDs für euch barriereärmer? Was ist schwierig für euch bei Partys, Demo-Paraden und anderen Pride-Veranstaltungen? Hier wollen wir jetzt die Antworten zusammentragen und ein paar eigene Gedanken anfügen.

Online-Angebote
Was vorher oft nicht vorstellbar gewesen wäre, ist seit Corona Alltag geworden: Online-Veranstaltungen. Nicht ideal für alle, dafür aber umso wertvoller für Andere. An einem Vortrag, einem Workshop, einer Party oder einer Gesprächsrunde vom eigenen Schreibtisch oder dem eigenen Bett aus teilnehmen zu können, kann ein echter Segen sein. Wir kennen unsere eigenen vier Wände, können nebenher einfach für das eigene Wohlbefinden sorgen – und wenn es uns zu viel wird, können wir problemlos Pausen machen oder aussteigen. Das ganze mit null Ansteckungsrisiko! Ja, viele Leute haben Online-Veranstaltungen satt. Aber auch da gibt es Möglichkeiten. Wie wäre es z.B. mit einer Hybrid-Veranstaltung, wo Leute sich entscheiden können, ob sie live dabei sind oder online teilnehmen? Wahlweise können Veranstaltungen auch hinterher digitalisiert und online zur Verfügung gestellt werden. Vorträge, Redebeiträge und anderer Input kann z.B. mit Ton und/oder Bild aufgezeichnet werden oder schriftlich zur Verfügung gestellt werden. Das ist sinnvoll für alle Leute, die nicht persönlich vor Ort sein können, sei es wegen Be_hinderung, Krankheit, zu langer Anreise oder auch für Leute, die nicht geoutet sind.

Ruhige Bereiche und Zeitfenster
CSD heißt für viele: Party! Und Party heißt: laute Musik! Das ist für manche Leute einfach nicht gut machbar. Das Problem fängt nicht erst bei Reizüberflutung an, sondern schon bei Lärmbelastung, auch z.B. für Kinder und junge Menschen. Bei Paraden ist es deshalb sinnvoll, einen Block ohne laute Musik zu haben. Bei Infoständen kann ein Zeitfenster ohne Beschallung helfen. Beides sollte vorher angekündigt sein. Dann wissen z.B. alle: Der letzte Block der Parade hat keine Musik und soll insgesamt ruhiger und weniger eng sein. Die Infostände haben von dieser bis zu jener Uhrzeit keine Musik und keine andere Beschallung. Ideal ist es, wenn es einen reizarmen Raum zum Zurückziehen gibt. Das kann ein tatsächlicher Raum oder ein Gebäude sein, falls sowas zur Verfügung steht (und je nach Pandemielage). Aber auch schon ein Zelt kann helfen. Wichtig ist: Der Ort sollte abseits des lauten Getümmels sein, abgedunkelt, Sitz- und Liegemöglichkeiten bieten und kostenloses Trinkwasser. Solche Räume können vom Awareness-Team betreut werden.

Andere Tools gegen Reizüberflutung
Wo alle Stricke reißen, können Ohrstöpsel helfen, Reizüberflutung und Gehörschädigung entgegenzuwirken. Ohrstöpsel sollten kostenlos oder allerhöchstens zum Kaufpreis zur Verfügung gestellt werden. Ich sehe das so: Für unsere Community ist es selbstverständlich geworden, dass kostenlos Kondome, Süßigkeiten oder bestimmte Infomaterialien verteilt werden. Genauso können wir es selbstverständlich machen, auch kostenlos Ohrstöpsel zur Verfügung zu stellen. Die kosten schließlich nicht die Welt und das ist ein sehr geringer Preis, um unsere Community sicher und glücklich zu halten. Zusätzlich kann es auch hilfreich sein, wenn vor Ort Sonnenbrillen zur Verfügung stehen. Reizüberflutung ist nicht nur eine Frage der Lautstärke – auch visuell kann es zu Überreizung kommen.
Und wo wir von visueller Überreizung sprechen: Lichteffekte wie Stroboskope u.ä. können epileptische Anfälle triggern und sollten deshalb vermieden werden oder im mindesten Fall rechtzeitig und deutlich vorher angekündigt werden. Ähnlich verhält es sich mit Nebelmaschinen – diese können z.B. Migräne triggern und sollten entweder vermieden oder zumindest angekündigt werden.

Verpflegung
Wo wir schon bei Trinkwasser sind: Weil die meisten CSDs im Hochsommer stattfinden und weil Alkohol- und Drogenkonsum eine Rolle spielen, ist es wichtig, kostenloses Wasser zur Verfügung zu haben. Das kann ein großer Kostenfaktor sein. Möglicherweise kann hier eine Zusammenarbeit mit der Stadt, mit lokalen Restaurants oder mit Sanitäter*innen gefunden werden – viele Städte haben Trinkbrunnen oder kostenlose, öffentliche Sanitäranlagen mit Trinkwasser aus dem Hahn.
Wenn ihr vor Ort Essen verkauft: Teilt vorher so genau wie möglich mit, was es gibt, was es kostet und ob es z.B. vegetarische, vegane und glutenfreie Optionen gibt. So können Menschen besser einschätzen, ob sie vor Ort satt werden oder sich selbst um ihre Verpflegung kümmern müssen.
Und zusätzlich: Es gibt nur wenige queere Spaces, in denen es keinen Alkohol gibt. Das kann für viele eine Belastung darstellen. Vorstellbar sind hier z.B. fest angekündigte Zeitfenster, in denen es Alkoholausschank gibt oder nicht gibt, damit sich Leute entsprechend darauf einstellen können.

Sanitäter*innen vor Ort
Für alle Notfälle sollte immer mindestens ein Team von Sanitäter*innen vor Ort sein, angepasst an die Menge der erwarteten Menschen. Diese sollten außerdem geschult sein im Umgang mit queeren Menschen – und auch im Umgang mit be_hinderten Menschen und anderen Diskriminierungsformen. Eine vorzeitige und wenn möglich regelmäßige Zusammenarbeit zwischen der CSD-Orga und den Sanitäter*innen im Einsatz ist hier ideal.

Klare Ansagen
Wann und wo geht es los? Wie lange dauert die Veranstaltung in etwa? Gibt es Pausen oder Zwischenstopps? Wo und wann? Bei einer Parade: Wie viele Kilometer hat die Demo-Strecke? Wo führt sie lang? Gibt es Kopfsteinpflaster oder ungepflasterte Wege auf der Strecke? Gibt es Möglichkeiten zum Abkürzen? Welche Bahnhöfe und Haltestellen liegen an der Strecke?
Je genauer die Ansagen schon im Voraus sind, desto genauer können Menschen mit ihren persönlichen Bedürfnissen planen. Das ist nicht nur eine enorme Entlastung, sondern kann für viele den Unterschied machen zwischen „Gehe ich hin?“ oder „Bleibe ich daheim?“

Gedränge vermeiden
Die 1,50m-Abstandsregelung kennen wir längst alle – so gut, dass viele sie oft vergessen ernstzunehmen. Gerade auf Großveranstaltungen wie CSDs sollte darauf aber auch weiterhin geachtet werden, nicht nur in der Pandemie. Es muss Wege und Bereiche geben, die sich mit Abstand und Platz navigieren lassen, für Leute mit Platzangst, mit geschwächtem Immunsystem, mit Rollstühlen, mit (Service-)Hunden oder Kleinkindern oder aus noch tausenden anderen Gründen. Dafür ist es wichtig, dass das Gelände oder der Raum der Veranstaltung groß genug ist, dass alle sich frei bewegen können. Bei kleineren Locations muss zur Not vorher abgeklärt werden, wann ein Einlass-Stopp erfolgen muss.

Sprachbarrieren
Sprache kann aus vielen Gründen eine Barriere sein. Deshalb ist es sinnvoll, vorher klar zu kommunizieren, in welcher Sprache oder welchen Sprachen eine Veranstaltung abgehalten wird. Gerade für (politische/aktivistische) Redebeiträge ist das wichtig, damit die Botschaften und Inhalte so viele Menschen wie möglich erreichen. Eine simple Möglichkeit ist hier, Redebeiträge zu verschriftlichen und/oder zu digitalisieren und online zur Verfügung zu stellen. So können die Beiträge auch leichter übersetzt werden. Zusätzlich ist eine Live-Übersetzung von Redebeiträgen in Gebärdensprache hilfreich. Damit die auch wirklich ankommt, ist es bei Großveranstaltungen sinnvoll, diese auf eine große Leinwand live zu übertragen.

Zugänglichkeit mit Rollstuhl und anderen Mobilitätshilfen
Das ist das erste, woran die meisten Menschen beim Thema Barrierefreiheit denken. Trotzdem bleibt selbst dieses Thema zu oft auf der Strecke oder verliert sich in anderen Orga-Punkten. Der Veranstaltungsort sollte für Personen mit Rollstuhl zugänglich sein oder zugänglich gemacht werden. Dazu gehören nicht nur Rampen, sondern auch genug Platz und Bewegungsfreiheit, rollstuhlgerechte Toiletten und vieles mehr. Außerdem sind ausreichend Sitzgelegenheiten wichtig – auch für Veranstaltungen, die eigentlich zum Stehen oder auf dem Boden sitzen geplant sind. Das ist nicht für alle eine Option und auch hier sollten Klappstühle o.ä. zur Verfügung stehen.
Fahrraddemos waren in den vergangenen Monaten ein beliebtes Mittel, um Corona-Regelungen einfach einzuhalten – aber wer hat eigentlich wirklich Zugang dazu? Und unter welchen Bedingungen? Und: wenn euer Konzept für Barrierefreiheit beinhaltet, dass irgendwer getragen werden muss o.ä., dann geht nochmal tief in euch. Die wenigsten erwachsenen Menschen haben Lust darauf, von Fremden durch die Gegend getragen zu werden. Ein Zugang zu einem Raum unter diesen Bedingungen ist für viele eben kein Zugang.

Ansprechpersonen
Zu guter Letzt: Es sollte klar und deutlich sein, an wen Leute ihre Fragen zu Barrieren und Zugänglichkeit stellen können. Sowohl vor der Veranstaltung (z.B. per Mail) als auch während der Veranstaltung sollte es klar gekennzeichnete Personen und Orte (z.B. ein Infostand oder Awareness-Zelt) geben, an den sich Leute wenden können. So ein Ort kann auch genutzt werden für Menschen, die allein unterwegs sind. Sie können ein Treffpunkt für Angebote sein, um nicht allein gehen zu müssen, wo Menschen sich zusammenschließen können. Zu zweit oder in einer Gruppe unterwegs zu sein, erleichtert einen Umgang mit Barrieren enorm und kann viel Angst und Sorge nehmen.

Und jetzt?
Das war nun also unsere Sammlung. Und, schon überfordert? Wir auch, geben wir gerne zu. Barrieren abbauen ist ein Fass ohne Boden, wenn eins einmal anfängt, über den Tellerrand von Rollstuhlrampen hinwegzusehen. Und dann kommt auch noch dazu, dass Be_hinderung und Barrieren so komplex sind, dass sie sich oft gegenseitig widersprechen. Wo manche Leute weniger Lautstärke brauchen, brauchen andere vielleicht mehr. Was für manche ein Abbau von Barrieren ist, kann für andere eine zusätzliche Hürde sein. Und: Barrieren reichen auch weit über Be_hinderung und Neurodiversität hinaus – auch Rassismus, Antisemitismus, Body Shaming, Diskriminierung aufgrund von Religion, Herkunft, Alter oder sozialer Klasse können Barrieren darstellen. Das sind alles Bedürfnisse, die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. CSD ist für uns alle.

Wir wollen hier keine klare Checkliste vorschreiben, sondern nur Denkanstöße zu geben. Wichtig ist, dass diese Themen im Gespräch sind, und zwar von Anfang an als Teil der Planung und nicht nur als hastiger Nachgedanke. Die meisten CSD-Orgateams haben jetzt fast ein ganzes Jahr Zeit, um sich mit diesen Themen zu befassen und Konzepte auszuarbeiten. Mit dieser Liste gibt es hoffentlich ein paar erste Ansatzpunkte.

Am Wichtigsten ist: Bleibt dran! Gebt nicht auf, bevor ihr angefangen habt! Alle diese Punkte kosten Zeit, Geld und Arbeitskraft, das ist klar. Wenn wir aber anfangen, diese Punkte nicht als Bürden zu sehen, sondern als selbstverständlichen Bestandteil von CSDs, dann verändert sich vieles. So, wie CSDs selbstverständlich DJs engagieren, weil die zur Party dazugehören, können auch Gebärdendolmetscher*innen angestellt werden. So, wie Geld in kostenlose Kondome fließt, um die Community zu schützen, so können auch Finanzen in kostenlose Ohrstöpsel oder kostenloses Trinkwasser investiert werden. Barrierenabbau sollte ein selbstverständlicher Bestandteil von CSDs sein, damit be_hinderte, neurodiverse queere Menschen ein selbstverständlicher Bestandteil von CSDs sein können.

Also: Tragt diese Listen in eure CSD-Orgateams! Schickt sie an euren lokalen CSD-Verein! Damit wir in Zukunft alle zusammen feiern können.

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